Das Geschenk der Wölfe
Inneren so aussieht? Jetzt stülpt es sich lediglich heraus. Gib’s zu: Du wusstest es!»
Seine Stimme klang kehlig und rau. Reuben lachte vor Glück, tief und selbstbewusst und wie befreit.
Inzwischen waren seine Hände dicht behaart. Und die Klauen!
Er riss sich den Pyjama vom Leib, zerfetzte ihn mühelos und warf ihn auf die Holzbohlen der Dachterrasse.
Sein Haupthaar wuchs immer noch. Inzwischen reichte es ihm bis auf die Schultern. Auch seine Brust war jetzt vollkommen behaart, und die Muskeln seiner Schenkel und Waden schwollen vor Kraft an.
Reuben dachte, irgendwann müsste dieser orgiastische Vorgang beendet sein, aber es hörte nicht auf. Schließlich riss er impulsiv den Mund auf, und ein Schrei, ein wildes Geheul wollte heraus, aber er hielt sich zurück. Er sah durch den Küstennebel zum Nachthimmel auf, über den sich weiße Wolken schoben, dazwischen blitzten Sterne auf, die viel zu weit entfernt waren, um vom menschlichen Auge wahrgenommen zu werden, aber er blickte gleichsam in die Ewigkeit.
«O Gott, lieber Gott!», flüsterte er.
Alle Häuser waren lebendig, die ganze Stadt atmete und vibrierte.
Du solltest dich fragen, warum das hier mit dir passiert. Du solltest wollen, dass es aufhört.
«Nein!», flüsterte er. Es kam ihm vor, als könnte er in der Dunkelheit eine Verbindung zu Marchent herstellen, als zöge sie ihr weiches braunes Wollkleid aus und stünde mit nackten Brüsten neben ihm.
Was passiert mit mir? Was bin ich?
Ein Gefühl, so stark und eindeutig wie Hunger, sagte ihm, dass er es nicht nur wusste, sondern ganz beglückt davon war. Er hatte gewusst, dass es passieren würde, seine nächtlichen Träume, aber auch seine Tagträume hatten ihn darauf vorbereitet. Die Kraft, die sich in ihm ausbreitete, konnte nur aus ihm selbst, aus seinem Inneren kommen, denn andernfalls hätte sie ihn zerrissen.
Jeder einzelne Muskel seines Körpers wollte losspringen, laufen, aktiviert werden.
Er drehte sich um, spannte die kraftvollen Schenkel an und sprang aufs Dach, vollkommen mühelos.
Es war so einfach, dass er lachen musste. Seine nackten Füße fanden sicheren Halt, als er mit gewaltigen Sätzen über das Dach sprang, ein paar Schritte ging und dann wieder sprang.
Ehe er sichs versah, war er bis zur nächsten Straßenecke gelangt. Ohne nachzudenken oder auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, dass er es schaffen könnte, sprang er auf das gegenüberliegende Haus.
Er hörte auf nachzudenken, gab sich ganz der lustvollen Bewegung hin und jagte weiter über die Dächer. Nie zuvor hatte er sich so stark gefühlt, so frei.
Die Stimmen wurden lauter. Ihr Chor schwoll an und ab, während er sich hierhin und dorthin bewegte und herauszuhören versuchte, welche Stimme die wichtigste war. Worauf war er aus? Was wollte er wissen? Wer rief nach ihm?
Er sprang von Haus zu Haus und bewegte sich den Hügel hinab, auf den dichten Verkehr und den Lärm von North Beach zu. Inzwischen war er so schnell, dass er vor schmaleren Straßenschluchten den Boden nicht mehr berührte, sondern direkt zum nächsten Dach übersetzte. Seine klauenartigen Hände erfassten, was immer er brauchte, um ihm Halt zu geben oder sich weiterzuziehen. Er war so leicht, dass er beinahe flog.
In einer Gasse hinter den Häusern einer größeren Straße hielt er plötzlich inne. Er hatte etwas gehört. Eine Frau schrie, eine zu Tode geängstigte Frau schrie um ihr Leben.
Im nächsten Moment hatte er sich schon auf die Straßenebene hinabgelassen und landete weich und geräuschlos auf der Erde. Er war von hohen Gebäuden umgeben, und im Licht der Straßenbeleuchtung zeichnete sich scherenschnittartig ab, wie ein Mann einer Frau die Kleider vom Leib riss und sie gleichzeitig würgte, während sie verzweifelt nach ihm trat, ohne ihn zu treffen.
Ihre Augen begannen unkontrolliert in ihren Höhlen zu rollen. Sie starb!
Ein mächtiges Knurren kam aus Reubens Hals, ohne dass er sich anstrengen musste. Brüllend stürzte er sich auf den Mann und riss ihn von der Frau los. Dann senkten sich seine Zähne in den Hals des Mannes, und sein Blut spritzte Reuben ins Gesicht, während der Mann vor Schmerz laut aufschrie. Ein widerlicher Geruch ging von ihm aus, der eigentlich kein Geruch war, sondern eher eine Aura dessen, was er vorhatte. Jedenfalls strahlte er etwas aus, das Reuben wütend machte. Er zerrte an ihm und stieß ihm grollend die Zähne in die Schulter. Es war ein gutes Gefühl, seine Muskeln zu zerfetzen. Die Aura des
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