Das Geschenk der Wölfe
und mailte ihn an seine Redaktion. Eineinhalb Minuten später bekam er einen Anruf von Billie, die ihn dafür lobte, vor allem für die Zitate des Krisenmanagers und die Schilderung der zertrampelten Blumen.
Zum Abendessen ging er ins Esszimmer hinunter. Aus verschiedenen Gründen ging es Grace nicht besonders gut. Unter anderem waren heute zwei Patienten auf ihrem Operationstisch gestorben. Beide hatten kaum eine Überlebenschance gehabt, aber selbst eine Unfallchirurgin steckte derlei nicht ohne weiteres weg, und so blieb Reuben länger am Tisch sitzen, als er es sonst getan hätte. Die Schulbusentführung war Tischgespräch Nummer eins. Der stummgeschaltete Fernseher lief in der Ecke des Esszimmers, damit Reuben die aktuelle Entwicklung im Auge behalten konnte.
Als er sich wieder an die Arbeit machte, schrieb er einen Artikel, in dem er an die Chowchilla-Entführung erinnerte und von den damaligen Verbrechern berichtete, die immer noch hinter Gittern saßen. Damals waren sie junge Männer in Reubens Alter gewesen, und er fragte sich, wie die lange Haftzeit sie wohl verändert hatte. Aber darum ging es in seinem aktuellen Artikel nicht. Vielmehr schlug er einen optimistischen Grundton an, da alle Entführten überlebt hatten.
Seit dem Massaker in Mendocino hatte er nicht mehr so viel an einem Tag gearbeitet. Er ging duschen und dann gleich zu Bett. Doch dann erfasste ihn eine so große innere Unruhe, dass er wieder aufstand und in seinem Zimmer auf und ab ging. Dann legte er sich wieder hin. Er fühlte sich einsam, schrecklich einsam. Seit dem Massaker war er nicht richtig mit Celeste zusammen gewesen. Aber es war nicht Celeste, nach der er sich sehnte. Würde er jetzt mit ihr schlafen, würde er ihr sicher so weh tun, dass sie blaue Flecken bekam, und er würde nicht darauf achten, was sie gerne wollte. Tat er das nicht sowieso schon die ganze Zeit? Musste es auch noch im Bett passieren?
Er drehte sich auf die Seite, umklammerte das Kopfkissen und stellte sich vor, er wäre in Kap Nideck, in Felix’ altem Bett, zusammen mit Marchent. Das half ihm einzuschlafen.
Aber um Mitternacht wachte er wieder auf. Der eingeschaltete Fernseher war die einzige Lichtquelle. Durchs Fenster schienen die Lichter der Stadt herein. Nur wo das Meer begann, die Bucht von San Francisco, war ein großer dunkler Fleck.
Konnte er tatsächlich bis zu den Hügeln von Marin County sehen? Es hatte ganz den Anschein. Weit hinter der Golden Gate Bridge zeichnete sich ihre Silhouette ab. Wie war das möglich?
Er sah sich in seinem Zimmer um und konnte ohne Weiteres alles erkennen, selbst die feinen Risse in der Decke. Oder die Maserung seines Schreibtischs. Es kam ihm vor, als steigerte das Zwielicht sein Sehvermögen.
Stimmen drangen durch die Nacht, ein unverständliches Durcheinander und Gemurmel. Aber er wusste, dass er sich bloß auf eine zu konzentrieren brauchte, um sie klar und deutlich zu verstehen. Was war das für eine Fähigkeit? Woher kam sie plötzlich?
Er stand auf, ging auf die Dachterrasse und legte die Hände auf das Holzgeländer. Der salzige Wind ließ ihn frösteln, aber er erfrischte ihn auch und verlieh ihm neue Energie.
Kälte schien sein neues Element zu sein. Hitze war ja genügend in ihm gespeichert, und jetzt schien sie aus ihm herauszubrechen, aus jeder Hautpore. Es fühlte sich an, als würde jedes einzelne Härchen auf seinem Körper dicker und länger. Es schüttelte ihn, aber es war äußerst lustvoll.
«Ja!», hauchte er. Er verstand. Doch was genau verstand er? Er glaubte es fassen zu können, dann war es wieder verschwunden. Was blieb, war eine pulsierende Ekstase.
Jede Faser seines Körpers pulsierte und wuchs, seine Gesichtshaut, sein Kopf, seine Hände, die Muskeln seiner Arme und Beine. Jede Pore atmete anders als je zuvor. Alles an ihm schien größer und stärker zu werden, Sekunde um Sekunde.
Seine Fuß- und Fingernägel wuchsen, und als er sein Gesicht abtastete, spürte er, dass es über und über von seidenweichen Haaren bedeckt war. Ja, dickes, weiches Haar wuchs ihm überall aus dem Körper. Es bedeckte seine Nase, seine Wangen, seine Oberlippe. Mit den Fingern – eigentlich waren es jetzt Klauen – tastete er nach seinen Zähnen und merkte, dass es ein Raubtiergebiss war. Noch wuchsen seine Zähne sogar, wurden länger und länger. Auch sein Kiefer wuchs und wurde kräftiger.
«Komm schon, du hast es gewusst! Oder willst du behaupten, du hättest nicht gewusst, dass es in deinem
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