Das Geschenk der Wölfe
auch dort, wo das raue Deckhaar fehlte, etwa um die Geschlechtsteile herum, an der Innenseite seiner Oberschenkel und am Unterbauch. Wenn er mit den Klauen vorsichtig durch das raue Deckhaar fuhr und es teilte, empfand er es als äußerst erregend.
Am liebsten wäre er gleich wieder rausgegangen, über die Dächer gesprungen und hätte gelauscht, ob irgendwo jemand in Not war. Es verlangte ihn so sehr danach, dass er Speichel absonderte und danach geiferte.
«Du denkst und fühlst wie dieses Wesen», sagte er und wunderte sich erneut über seine veränderte Stimme. «Hör damit auf!»
Er betrachtete die Innenseite seiner Hände, die zu unbehaarten Pfoten geworden waren, durchzogen von einer Maserung, die seine ehemaligen Finger darstellte. Wenigstens hatte er noch Daumen.
Langsam ging er auf seinen Nachttisch zu. Das Zimmer war so unerträglich warm, dass er großen Durst bekam. Er griff nach seinem iPhone und konnte es mit den Klauen kaum halten, aber irgendwie schaffte er es.
Dann ging er ins Badezimmer, schaltete alle Lampen an und betrachtete sich in der Spiegelwand gegenüber der Dusche. Die Helligkeit ließ seinen eigenen Anblick zum Schock werden. Am liebsten hätte er sich abgewandt, versteckt, das Licht gelöscht. Stattdessen zwang er sich, sein Spiegelbild genau zu betrachten.
Die schwarze Nase, mit der er eine Unzahl von Gerüchen wahrnahm, wie es nur Tiere konnten. Der kräftige Kiefer, der sich aber nicht so stark vorwölbte wie eine richtige Schnauze. Und dann diese unglaublichen Reißzähne!
Er hielt das iPhone in die Höhe und fotografierte sich selbst. Wieder und wieder.
Dann lehnte er sich an die Marmorfliesen neben der Dusche, leckte sich über die Zähne und schmeckte das Blut des Mannes.
Sofort erwachte wieder die Gier in ihm. Es gab mehr böse Menschen als nur diesen stinkenden Vergewaltiger, mehr Menschen in Not als nur die Frau in dem roten Kleid. Er hörte ihre Stimmen. Wenn er wollte, könnte er sich jetzt auf eine davon konzentrieren und ihr folgen.
Aber er tat es nicht. Er war wie gelähmt, wie erstarrt.
Er war drauf und dran zu weinen, aber der Impuls war nicht stark genug. Vielmehr war es nur ein Gedanke:
Du solltest weinen, zu Gott beten, ihn um Verständnis bitten, ihm deine Ängste offenbaren.
Nein, er tat es nicht. Er hatte nicht einmal ernsthaft die Absicht.
Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das Waschbecken volllaufen. Dann trank er gierig daraus, bis sein Durst gestillt war. Es war, als hätte er Wasser noch nie richtig geschmeckt, noch nie bemerkt, wie köstlich es war, wie süß und rein, wie belebend.
Er probierte, ein Glas zu halten und es mit Wasser zu füllen, als plötzlich die Rückverwandlung begann.
Er spürte es wie beim ersten Mal zuerst in den Millionen Haarwurzeln, die überall in seinem Körper saßen. Gleich darauf krampfte sich sein Magen zusammen, aber nicht schmerzhaft, sondern eher lustvoll.
Er sah in den Spiegel und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, obwohl es immer schwieriger wurde. Die Behaarung zog sich zurück und verschwand stellenweise ganz; einzelne Haare fielen auf die Bodenkacheln. Die ledrig-schwarze Nasenspitze wurde blasser und verschwand dann ganz. Seine Nase wurde kürzer, genau wie die Reißzähne. Sein Mund kribbelte, ebenso seine Hände und Füße. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert.
Es war ein körperlicher Zustand, der an Ekstase grenzte. Er konnte nicht mehr zuschauen, nicht mehr aufpassen. Er war der Ohnmacht nahe.
Er stolperte in sein Zimmer und fiel aufs Bett. Sein Körper zuckte orgiastisch, von den Waden bis zum Rücken und den Armen. Das Bett fühlte sich ungewohnt weich an, und die Stimmen wurden leiser, bis er nur noch ein leises Summen vernahm.
Dunkelheit senkte sich über ihn wie in jenen verzweifelten Augenblicken in Marchents Haus, als er zu sterben glaubte. Aber im Gegensatz zu damals kämpfte er jetzt nicht dagegen an.
Er schlief ein, bevor die Verwandlung ganz vollzogen war.
Es war hellichter Tag, als er vom Klingeln seines Telefons geweckt wurde. Aber wo war der Apparat?
Es hörte auf zu klingeln.
Reuben stand auf. Er war nackt, und ihm war kalt. Der Himmel war bewölkt, aber das Licht, das durchs Fenster schien, war ihm zu hell. Außerdem hatte er so starke Kopfschmerzen, dass es besorgniserregend war, doch dann hörten die Schmerzen ganz plötzlich auf.
Er suchte das Telefon und fand es schließlich auf dem Badezimmerfußboden. Er erinnerte sich daran, wie es dorthin gelangt war, und
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