Das Geschenk der Wölfe
seinen Augen kaum. Marchents Nachname in einer Geschichte mit dem Titel «Der Wolfsmensch».
Er unterbrach die Lektüre und googelte «Nideck». Tatsächlich! Einst hatte es eine Burg dieses Namens gegeben, heute war es eine berühmte Ruine in den elsässischen Vogesen, zwischen Oberhaslach und Wangenbourg. Doch das war nicht der Punkt. Der Punkt war, dass dieser Name vor weit über hundert Jahren in einer Kurzgeschichte über einen Werwolf benutzt worden war. 1876 war sie ins Englische übersetzt worden, kurz bevor sich die Nidecks in Mendocino County angesiedelt und das riesige Haus am Meer gebaut hatten. Eine Familie, die laut Simon Oliver aus dem Nichts gekommen war.
Reuben war wie vor den Kopf gestoßen. Aber er sagte sich, dass es ein Zufall sein musste. Ein Zufall, den vor ihm bloß noch niemand bemerkt hatte.
Aber noch etwas hatte ihn stutzig gemacht. Reuben scrollte noch einmal zum Anfang zurück. Sperver. Irgendwoher kannte er diesen Namen. Er musste etwas mit Marchent und Kap Nideck zu tun haben. Aber was? Er konnte sich nicht daran erinnern. Dabei sah er den Namen praktisch vor sich, in Tinte geschrieben. Doch wo war das gewesen? Dann fiel es ihm plötzlich ein. Es war der Nachname von Felix Nidecks engstem Freund und Mentor, Margon. Margon, der Gottlose. Stand dieser Name nicht auch unter dem großen gerahmten Foto über dem Kamin? Warum hatte er sich die Namen nicht notiert? Trotzdem war er sich sicher. Er erinnerte sich auch daran, dass Marchent den Namen ausgesprochen hatte. Margon Sperver.
Nein, das konnte nun doch kein Zufall mehr sein. Ein Name – okay. Aber zwei? Unmöglich. Doch was, um alles in der Welt, hatte das zu bedeuten?
Ein Schauder durchfuhr ihn.
Nideck.
Was hatte Simon Oliver gesagt? Er hatte gar nicht wieder aufgehört zu reden und geklungen, als wollte er sich selbst beruhigen – und nicht so sehr Reuben.
«Es ist keine Familie, die man als alt bezeichnen könnte. Der Name taucht erst um 1880 auf. Nach Felix’ Verschwinden wurde ausgiebig nach jemandem gesucht, der etwas über ihn wissen könnte. Ohne Erfolg. Natürlich sind im neunzehnten Jahrhundert viele erstmals ins Licht der Öffentlichkeit getreten, Männer, die wirtschaftlich erfolgreich und dadurch auf dem gesellschaftlichen Parkett plötzlich jemand waren. Wie dieser Holzbaron Nideck, der aus dem Nichts kam und sich ein riesiges Haus baute. So etwas war damals ganz normal. Jedenfalls brauchen Sie keine Angst zu haben, dass plötzlich ein Erbe auftaucht und Ihnen das Anwesen streitig macht. Es gibt keinen.»
Reuben starrte auf den Bildschirm.
Warum ausgerechnet dieser Name? Warum hatte Felix’ Vorfahre ihn gewählt? Der Gedanke, dass er diese Werwolfgeschichte kannte und der Name daher stammte, war absurd. Und dass dann mehr als hundert Jahre später … Nein, Unsinn! Und wenn sein Freund zehnmal Sperver hieß. Es konnte einfach nicht sein. Auch Marchent hatte ja nichts von einem Familiengeheimnis gewusst.
Er sah Marchents strahlendes Gesicht vor sich, hörte sie lachen. Sie war so erfrischend und hatte so viel innere … Was? Selbstgewissheit? Zufriedenheit?
Was aber, wenn das Haus nun doch ein dunkles Geheimnis barg?
Während der nächsten Viertelstunde überflog Reuben den Rest der Kurzgeschichte
Der Wolfsmensch
.
Sie war unterhaltsam und typisch neunzehntes Jahrhundert. Hugh Lupus hieß der Werwolf, der Schloss Nideck heimsuchte, weil ein Fluch auf der Familie lastete. Andere faszinierende Figuren, wenn für Reubens Zwecke auch uninteressant, waren ein Zwerg, der das Schlosstor bewachte, und eine mächtige Hexe, die auf den Namen «Schwarze Pest» hörte. Sperver war ein Jäger im Schwarzwald.
Was sollte das alles mit seinen eigenen Erlebnissen zu tun haben? Er war nicht bereit zu glauben, dass Kap Nideck verflucht war und im Bann eines Werwolfs stand.
Aber was wusste er schon?
Ausschließen konnte er es nicht.
Wieder musste er an das große Foto über dem Kamin in Marchents Bibliothek denken, an die Männer, die in irgendeinem Tropenwald standen, an Felix Nideck und seinen Mentor Margon Sperver. Marchent hatte noch mehr Namen genannt, aber Reuben konnte sich nicht daran erinnern. Trotzdem war er sich sicher, dass sie in der Kurzgeschichte nicht auftauchten.
Ihm würde wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich weiter durch die Werwolfliteratur zu lesen. Also bestellte er sich noch ein paar Bücher mit Legenden und Gedichten, dazu einige Anthologien und Aufsatzsammlungen, alles per
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