Das Geschenk der Wölfe
immer Wölfe gegeben hatte? Da waren die Einheimischen allerdings ganz anderer Meinung. Einige von ihnen hatten im Fernsehen versichert, dass es schon lange keine Wölfe mehr in ihren Wäldern gab.
Also gut, die Filme gaben keine Antworten auf seine Fragen. Er hätte es wissen müssen. Eins ließ ihn allerdings aufhorchen: In manchen Filmen wurde es als ein «Geschenk» bezeichnet, wenn ein Mensch die Fähigkeit erhielt, sich in einen Wolf zu verwandeln. Das gefiel ihm. Ein Geschenk. Tief in seinem Inneren empfand er es nämlich genauso.
In den Filmen diente dieses Geschenk allerdings meist keinem höheren Zweck. Meist blieb unklar, warum Film-Werwölfe ihre Opfer angriffen. Sie schienen wahllos zuzuschlagen, noch nicht einmal weil sie Hunger oder Durst hatten, denn sie tranken das Blut der Opfer nicht und fraßen sie nicht auf. Im Grunde verhielten sie sich überhaupt nicht wie Wölfe. Ihr Verhalten erinnerte eher an Tiere, die … tollwütig waren. In
The Howling
–
Das Tier
kopulierten diese Wesen zwar gern, aber abgesehen davon war nicht auszumachen, welchen Vorteil es für sie haben sollte, als Werwölfe zu leben. Sie heulten den Mond an, konnten sich hinterher an nichts erinnern, und früher oder später wurden sie erschossen.
Auch das mit den Silberkugeln war Unsinn. Wenn es dafür eine wissenschaftliche Erklärung gab, wollte er nicht Reuben, der Wolfsmensch, sein!
Wolfsmensch. Von allen Begriffen für das Phänomen gefiel ihm dieser am besten. Auch Susan Larson hatte ihn benutzt. Er hoffte, dass Billie seine Artikelüberschrift nicht ändern würde.
Ist es falsch, dass ich mich als Wolfsmensch fühle?
Noch einmal versuchte er, Mitleid für den Vergewaltiger zu empfinden, den er getötet hatte, aber es gelang ihm nicht.
Gegen acht machte er Pause, stellte das Klavierkonzert ab und versuchte, die Stimmen aus eigener Kraft zu ignorieren.
Es war gar nicht so schwierig, wie er befürchtet hatte. Celeste war nicht mehr im Haus. Sie war mit Mort Keller in ein Café gegangen. Mort war schon immer ein wenig in sie verliebt gewesen, und Grace und Phil unterhielten sich gerade darüber. Sonst redeten sie nicht viel. Grace war von einem Experten in Paris angerufen worden, der sich für die «Wolfsmorde» interessierte, aber sie hatte kaum Zeit gehabt, um mit dem Mann zu sprechen. Dieses Gespräch im Esszimmer war gut auszublenden.
Reuben rief die Fotos auf, die er letzte Nacht im Badezimmer gemacht hatte. Er hatte sie in einer mit Passwort geschützten Datei abgelegt. Sie anzusehen war ebenso beängstigend wie erregend.
Er wollte, dass es wieder passierte.
Es war eine Tatsache, der er sich stellen musste. Er freute sich auf das nächste Mal, wie er sich noch nie auf etwas gefreut hatte, nicht mal auf seine erste Nacht mit einer Frau oder auf Weihnachten, als er acht war. Er konnte es kaum erwarten.
Er dachte daran, dass es gestern erst um Mitternacht begonnen hatte. Also googelte er weiter zum Thema Werwölfe in der Mythologie. Es war faszinierend zu sehen, was für eine große Rolle Wölfe in fast allen Kulturen spielten, so faszinierend wie die Werwolfgeschichten selbst. Eine mittelalterliche Geschichte über eine dörfliche Gemeinschaft, die sogenannte Bruderschaft des Grünen Wolfs, faszinierte ihn besonders. Dort wurde beschrieben, wie die Landbevölkerung wild um Scheiterhaufen tanzte, auf denen ein symbolischer «Wolf» verbrannt wurde.
Er wollte schon Feierabend machen, als ihm noch einmal die Geschichten des französischen Autorenduos aus dem neunzehnten Jahrhundert einfielen,
Der Wolfsmensch und andere Erzählungen
. Vielleicht sollte er sie einmal lesen. Sie waren nicht schwer zu finden, und im Nu hatte er sie bei Amazon bestellt. Dann kam er auf die Idee, dass man die Geschichten vielleicht auch online lesen konnte.
Auch das war kein Problem. Bei horrormaster.com fand er sie zum kostenlosen Download. Er wollte die Geschichten nicht ganz lesen, sondern nur einen Blick hineinwerfen, in der Hoffnung, ein Körnchen Wahrheit in all den Phantasiegebilden zu finden.
Es war um die Weihnachtszeit des Jahres 18 –. Ich logierte im Gasthof zum Schwan in Fribourg, lag im Bett und schlief, als mein Freund Gideon Sperver ins Zimmer gestürmt kam und rief:
«Es gibt Neuigkeiten, Fritz! Ich bringe dich nach Nideck.»
Nideck!
Der nächste Satz lautete: «Du kennst doch Nideck! Der Wohnsitz des Barons ist das vornehmste Schloss im ganzen Land, eine Hommage an den Ruhm unserer Vorväter.»
Reuben traute
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