Das Geschenk der Wölfe
Sprüngen von einem zum anderen, als hätte er Flügel. Überall witterte er die Anwesenheit anderer Tiere.
Immer tiefer drang er in den Wald ein und betrat den weichen Boden erst wieder, als er keine menschlichen Stimmen mehr hörte. Nur noch der Regen sang sein Lied, und tausend kleine Kreaturen, deren Namen er nicht kannte, waren in Farnen und Zweigen zu hören. Über ihm raschelten Vögel in den Bäumen.
Er lachte und summte vor sich hin, streifte ziellos umher und kletterte schließlich in den Wipfel eines hohen Baums. Der Regen prasselte wie Nadeln auf seine Augen, aber er kletterte immer weiter, bis die Zweige zu dünn wurden, um sein Gewicht zu tragen. Schließlich stieg er wieder hinab und tanzte mit ausgestreckten Vorderbeinen auf dem weichen, feuchten Waldboden.
Er warf den Kopf in den Nacken und stieß einen wilden Schrei aus, der in lang anhaltendes Geheul überging. Eine Antwort bekam er nicht. Nur Geflatter und Geraschel war zu hören, als kleine Lebewesen vor ihm die Flucht ergriffen.
Er ließ sich auf alle viere nieder und lief lautlos und schnell durch den dichten Wald. Plötzlich witterte er ein anderes Tier – ein Luchs –, der von seinem Ruheplatz aufgeschreckt war und vor ihm floh. Hungrig folgte er der Fährte und schlug zu, als er das Tier erreichte. Es knurrte und wehrte sich, aber er packte es am Fell und schlug ihm die Zähne ins Fleisch.
Dieses Mal ließ er sich nicht von der ersehnten Mahlzeit abhalten.
Er riss das saftige Muskelfleisch von den Knochen und zermalmte es mit den Zähnen. Zusammen mit Knochen und Fell verschlang er alles, was er kriegen konnte, schlürfte genüsslich das Blut, die weichen Innereien, den Bauchspeck. Gut vierzig Pfund Beute verleibte er sich ein und ließ nur die Pfoten und den Kopf übrig, aus dem ihm feindselige gelbe Augen entgegenstarrten.
Reuben atmete schwer und winselte leise, als er sich die letzten Blutstropfen von den Zähnen leckte. Ein Luchs – was für ein Festmahl! Katzen bettelten niemals um Gnade. Sie kämpften bis zum Schluss. Das erhöhte den Genuss.
Doch plötzlich überkamen ihn Horror und Ekel. Er hatte sich auf allen vieren fortbewegt und wie ein Tier gefressen.
Aufrecht ging er weiter und überquerte einen Bach auf einem dicken, bemoosten Baumstamm, auf dem seine Klauen sicheren Halt fanden. Immer tiefer drang er in die Schlucht ein, tiefer als je zuvor, bis er die Bergflanke des Mount Tamalpais erreichte.
Irgendwann legte er sich hin und schmiegte sich an die raue Rinde eines Baums. Er blinzelte in die Dunkelheit, und zum ersten Mal sah er mehr Kreaturen, als er in dieser Umgebung vermutet hatte. Er witterte Füchse, Eichhörnchen, Streifenhörnchen und noch allerlei Getier, das er nicht identifizieren konnte.
Als er sich ausgeruht hatte, streifte er weiter umher, bis sich der Hunger wieder meldete. Er beugte sich zu einem Bach hinunter und verfolgte die schnellen Bewegungen der Winterlachse. Als er mit der Pfote ins Wasser fuhr, erwischte er einen großen, zappelnden Fisch und schlug die Zähne hinein.
Das rohe Fleisch war köstlich und schmeckte ganz anders als der saftig-sehnige Luchs.
War es wirklich Hunger, den er stillte? Nein, es musste etwas anderes sein. Er machte sich mit seiner neuen Existenz vertraut und probierte aus, was alles möglich war.
Wieder erklomm er einen Baum und suchte die wankenden Zweige nach Vogelnestern ab. Er fraß alle Eier, die er finden konnte, ohne sich von den kreischenden Vogelmüttern stören zu lassen, die ihn umschwirrten und auf ihn einhackten.
Zurück am Bachufer, reinigte er Gesicht und Pfoten im eiskalten Wasser. Dann stieg er ins Bachbett und nahm ein Bad, indem er sich das Wasser auf Kopf und Schultern spritzte. Er wollte das Blut abwaschen, bis nichts mehr davon zu sehen war. Es war wunderbar erfrischend. Er ließ sich auf die Knie nieder und trank, als hätte er sein Leben lang seinen Durst nicht stillen können. Er schleckte das Wasser auf und verschluckte es in großen Zügen.
Der Regen prasselte auf die Wasseroberfläche und zwang ihr sein Muster auf. Darunter tummelten sich die Fische und zogen ihre Bahnen.
Wieder erklomm er einen Baum, um den Wald weiter in der Höhe zu durchstreifen.
Keine Sorge, Vögelchen, ich tu euch nichts.
«Du sollst das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen», heißt es in der Bibel. Das hatte er auch nicht vor.
Wie schon früher konnte er trotz der Wolken die Sterne sehen. Es war wunderschön, wie sich der Himmel über Nebel und
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