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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schlug ihm die Vorderpfoten in die Brust und zerquetschte sie. Wieder hörte er Knochen knacken, und er blickte dem Mann so lange in das fahle, angstverzerrte Gesicht, bis das Leben aus seinen Augen wich.
Du stirbst viel zu schnell, du Bestie!
    Er trampelte den verkrampften Körper nieder, aber das war ihm noch nicht genug. Immer noch stieß er sein wütendes Grollen aus. Wieder hob er den leblosen Körper an und schleuderte ihn gegen ein Fenster, sodass ein Scherbenregen niederging und die Leiche unter sich begrub.
    Plötzlich fühlte er sich ganz leer und enttäuscht. Alle waren tot. Frustriert stöhnte er auf. Alles war viel zu schnell gegangen. Er warf den Kopf in den Nacken, riss das Maul auf und stieß ein wildes Gebrüll aus, bis sein Kiefer schmerzte. Er schloss das Maul, riss es wieder auf und brüllte noch einmal. Diese übermächtige Gier war neu. Er hätte die Türen packen und mit den Zähnen zerfetzen können. Hauptsache, er könnte die Zähne in irgendetwas schlagen und es zerstören, bis nichts davon übrig blieb.
    Speichel tropfte aus seinem Mund. Ärgerlich strich er mit den blutbesudelten Pfoten darüber.
Die Kinder! Hast du die Kinder vergessen? Darum bist du doch gekommen!
    Widerwillig trottete er durch den Hausflur zur Tür zurück und warf sich gegen die Spiegel und Bilder an den Wänden. Am liebsten hätte er das ganze Mobiliar zerstört, aber er musste zu den Kindern.
    Ein Alarmanlagentableau wie sein eigenes in Mendocino fiel ihm ins Auge. Er drückte auf die blaue Taste, um ärztliche Hilfe anzufordern, und auf die rote, um die Feuerwehr zu alarmieren.
    Augenblicklich zerriss ein schriller Alarm die Stille.
    Er drückte die Pfoten auf die Ohren und heulte vor Schmerz auf. Es hämmerte in seinem Kopf. Aber er hatte keine Zeit, um nach dem Lautsprecher zu suchen, aus dem dieser unerträgliche Lärm kam, und ihn auszuschalten. Er musste sich beeilen.
    In wenigen Sekunden erreichte er die Scheunentür und riss die Schlösser ab, die mit splitterndem Holz herausbrachen und zu Boden fielen.
    Im Schein der hellen Fenster, die vom Haus herüberleuchteten, sah er den Bus. Er war mit einer Eisenkette und mehreren Lagen Klebeband umspannt – eine abgeschlossene Folterkammer.
    Die Kinder weinten und schrien, aber gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Alarmanlage nahm sich ihre Verzweiflung beinahe zaghaft aus. Reuben konnte ihre Not riechen. Sie dachten, sie müssten sterben. Gleich würden sie erkennen, dass sie gerettet waren, befreit.
    Er zog an dem Klebeband und zerriss es, als sei es dünnes Papier. Dann schlug er ein Fenster und die Bustür ein.
    Ein ekelhafter Gestank stieg ihm in die Nase – Exkremente, Urin, Erbrochenes, Schweiß. Was hatten die Kinder nur erleiden müssen! Doch ihre Qualen sollten nun ein Ende haben.
    Der Alarm brachte Reuben ganz durcheinander und machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Aber das meiste war ja getan.
    Er zog sich aus der Scheune zurück und lief in den Regen hinaus. Die Erde unter seinen Pfoten war reiner Schlamm. Er wollte das tote Kind aus dem Landrover ziehen und es an eine Stelle legen, wo es gefunden würde. Aber er konnte den Lärm nicht länger ertragen. Bestimmt würde man das Kind auch so finden. Trotzdem fühlte es sich falsch an, es einfach liegen zu lassen, wo es jetzt war. Es war seine Aufgabe, den ganzen Schauplatz so herzurichten, dass das Richtige geschah, sobald Hilfe eintraf.
    Aus den Augenwinkeln sah er kleine und größere Gestalten aus dem Bus klettern.
    Sie bewegten sich in seine Richtung. Bestimmt konnten sie ihn sehen und erkannten, was für eine Kreatur er war. Das Haus war so hell erleuchtet, dass sie auch das Blut auf seinem Fell und an seinen Pfoten sehen mussten.
    Das würde ihnen nur noch mehr Angst machen. Er musste verschwinden.
    Er bewegte sich auf die nassglänzenden Bäume im hinteren Teil des Grundstücks zu und tauchte in den großen, stillen Wald ein, der sich in westliche Richtung zog, die Muir Woods.

[zur Inhaltsübersicht]
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    D ie Muir Woods erstreckten sich über eine Fläche von gut zweihundert Hektar. Hier standen einige der ältesten Redwoodbäume Kaliforniens. Manche waren über sechzig Meter hoch und über tausend Jahre alt. Zwei Bäche flossen durch den Canyon. Früher war Reuben hier oft gewandert, er kannte den Wald gut.
    Er genoss die Stille und Abgeschiedenheit, die er auch in Mendocino suchte. Im Hochgefühl seiner ungeheuren Stärke erklomm er die höchsten Bäume und schwang sich mit gewaltigen

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