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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Wolken wölbte. Der Regen überzog die Bäume mit silbernem Licht. Überall auf den Blättern rings um ihn glitzerte und wisperte der Regen. Er sammelte sich auf den oberen Zweigen und fiel auf die darunter, immer weiter, bis er die Welt unter ihm benetzte. Regen, Regen und wieder Regen. Er machte die jungen Farne und die dichte Laubdecke des Waldbodens weich und ließ alles frisch und würzig duften.
    An seinem Körper konnte er den Regen nicht spüren, nur auf den Augenlidern. Aber riechen konnte er ihn. Alles, was er nährte und reinigte, veränderte sein Aroma.
    Langsam kletterte Reuben wieder herunter und ging auf dem Waldboden weiter, aufrecht und vollkommen gesättigt. Er fühlte sich erstaunlich sicher, und es amüsierte ihn, dass er keinem Lebewesen begegnete, das keine Angst vor ihm gehabt hätte.
    Dass er die drei niederträchtigen Männer ausgelöscht hatte, widerte ihn an, und ihm war zum Weinen zumute. Aber konnte er weinen? Konnten wilde Tiere weinen? Ein heiseres Lachen entfuhr seiner Kehle.
    Ihm war, als hörten die Bäume ihm zu. Doch war es nicht eine anmaßende Vorstellung, dass sich diese tausendjährigen Wächter des Waldes darum scherten, wer oder was außer ihnen hier lebte? Was für gewaltige Gebilde diese Redwoodbäume waren, so viel größer und stärker als alles andere in ihrer natürlichen Umgebung! Was für wunderbare göttliche Geschöpfe!
    Noch nie war ihm eine Nacht schöner vorgekommen. Er konnte sich gut vorstellen, für immer so zu leben, sich selbst genug, stark und völlig angstfrei. Wenn dieser Zustand das Geschenk der Wölfe war, war er nur zu gern bereit, es anzunehmen.
    Doch er hatte Angst, dass diese bewussten Empfindungen dem Tier in ihm geopfert werden könnten. Für den Moment aber war für ihn alles Poesie, und er trat seiner Umwelt mit Hochachtung und Demut gegenüber.
    Plötzlich fiel ihm ein Lied ein, ein altes Lied. Er wusste nicht mehr, wo er es gehört hatte. Er begann es leise zu summen, während er sich den genauen Text in Erinnerung zu rufen versuchte.
    Dabei näherte er sich einer von hohen Gräsern bewachsenen Lichtung. Das Mondlicht, das durch die tiefhängenden Wolken sickerte, war hier viel stärker. Nach der Enge des Waldes waren die im Regen schimmernden Gräser ein ganz bezaubernder Anblick.
    Tanzend begann er sich im Kreis zu drehen, während er sang. Seine Stimme klang tief und klar. Es war nicht die Stimme des alten Reuben, des nichtsahnenden, ängstlichen Reuben. Es war die Stimme des Reuben, zu dem er in dieser Nacht geworden war.
    Das Geschenk der Einfachheit,
    das Geschenk der Freiheit,
    das Geschenk tief in uns drinnen,
    auf das Richtige zu sinnen.
    Wenn wir uns finden
    am rechten Platz,
    sind Liebe und Freude unser Schatz.
    Wieder und wieder sang er diese Zeilen, tanzte mit geschlossenen Augen und drehte sich immer schneller. Irgendwann war ihm, als erschiene ein Licht vor seinen Augenlidern, ein schwaches, fernes Licht, aber er beachtete es nicht, sondern sang und tanzte weiter.
    Dann hörte er plötzlich auf.
    Er hatte etwas gewittert – einen starken, unerwarteten Geruch, süßlich und mit Parfüm vermischt.
    Jemand war ganz in der Nähe. Als er die Augen öffnete, sah er einen Lichtschein im Gras. Der Regen schien an dieser Stelle aus purem Gold zu sein.
    Er witterte keinerlei Gefahr. Es war ein menschlicher Geruch, ganz rein, unschuldig und furchtlos.
    Er schaute sich um. Sei sanft und freundlich, sagte er sich. Der andere wird sich vor dir fürchten, vor Angst vielleicht sogar außer sich sein. Und er ist ein Zeuge.
    Ein Stück entfernt stand eine Frau auf der Veranda eines dunklen Hauses und sah in seine Richtung. In einer Hand hielt sie eine Laterne.
    In der Dunkelheit reichte der Schein der Laterne weit, auch wenn er in der Ferne immer schwächer wurde. Jedenfalls war es so hell, dass sie ihn sehen konnte.
    Sie stand ganz still und schien ihn inmitten der hohen Gräser aufmerksam zu beobachten. Sie hatte langes Haar, das in der Mitte gescheitelt war, und große, schattige Augen. Das Haar schien grau zu sein, fast weiß, aber das mochte im diffusen Licht täuschen. Reuben konnte keine Einzelheiten erkennen. Die Frau trug ein langes weißes Nachthemd, und sie war ganz allein. In dem dunklen Haus hinter ihr war niemand.
    Hab keine Angst!
    Das war sein erster und einziger Gedanke. Wie klein und zerbrechlich sie wirkte! Wie ein unterlegenes, schwaches Tier, das ihm bei Laternenschein entgegenstarrte.
    Bitte hab keine Angst!
    Reuben fing

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