Das Geschenk der Wölfe
Geschichte. Die Hoffmans hatten ihr erstes Kind verloren, ein Mädchen, das – noch nicht einmal ein Jahr alt – an einem Krankenhausvirus starb.
Nachdem Reuben das in Erfahrung gebracht hatte, war es nicht schwer, die Lebensgeschichte von Laura J. Dennys zusammenzusetzen.
Sie war die Tochter des kalifornischen Naturkundlers Jacob Dennys, der fünf Bücher über die Redwoodwälder der Nordküste geschrieben hatte. Er war vor zwei Jahren gestorben. Seine Frau, Collette, eine Malerin aus Sausalito, war bereits vor zwanzig Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Das bedeutete, dass Laura schon sehr jung die Mutter verloren hatte. Jacob Dennys’ älteste Tochter, Sandra, war mit zweiundzwanzig bei einem Überfall auf ein Spirituosengeschäft in Los Angeles getötet worden, als unschuldige Passantin, die «zur falschen Zeit am falschen Ort» war.
Was für eine Aneinanderreihung von Tragödien! Es überstieg Reubens Vorstellungsvermögen. Hinzu kam noch, dass Jacob Dennys in seinen letzten Lebensjahren an Alzheimer erkrankt war.
Reuben lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. Das Sandwich erschien ihm wie Papier mit Sägespänen.
Er war ziemlich erschlagen von allem, was er gelesen hatte. Zugleich schämte er sich dafür, dass er Laura hinterherspionierte. Er hatte es getan, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und im Grunde gehofft, etwas Außergewöhnliches über sie herauszufinden, etwas, das sie in die Lage versetzte, ihn so zu akzeptieren, wie er war.
Doch das war zu viel verlangt.
Er musste wieder an die beiden Kinder in San Francisco denken, die sich im Bett aneinanderkuschelten. Es machte ihn glücklich, sie gerettet zu haben, und unglücklich, dass er zu spät gekommen war, um ihnen die Mutter zu erhalten. Er fragte sich, wo die Kinder jetzt wohl waren.
Kein Wunder, dass Laura in ihre alte Heimat zurückgekehrt war und sich dann in den Wald zurückgezogen hatte. Die Webseite über L. J. Dennys war drei Jahre alt. Wahrscheinlich hatte sie ihren Vater gepflegt, bis er sie genauso verlassen hatte wie alle anderen vorher.
Lauras Schicksal machte Reuben unsagbar traurig.
Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich dich begehre. Noch mehr schäme ich mich bei dem Gedanken, dass du mich vielleicht nur lieben kannst, weil du so viel verloren hast.
Er konnte sich nicht vorstellen, so allein zu sein wie sie. Was er jetzt durchmachte, war schon schlimm genug, und er fürchtete, dass seine Isolation ihn langsam verrückt machen würde.
Doch selbst jetzt noch war er von Liebe umgeben. Seine Beziehung zu Grace und Phil war eng, und dann war da natürlich der geliebte Bruder Jim. Er hatte auch noch Celeste, die alles für ihn tun würde, und seinen guten Freund Mort. Das Haus in Russian Hill war ein warmes Nest, und es gab einen großen Freundeskreis, der in diesem Haus verkehrte. Und dann Rosy, die gute Seele! Selbst Phils langweilige Professorenfreunde waren ein Fixpunkt in Reubens Leben, genau wie zahllose Onkel und Tanten.
Dann dachte er wieder an Laura in ihrem kleinen Haus am Waldrand und fragte sich, was es wohl bedeutete, verheiratet zu sein und dann die ganze Familie zu verlieren. Es musste unsagbar schmerzlich sein.
Eigentlich wäre es nicht verwunderlich, dachte er, wenn jemand durch solche Lebenserfahrungen misstrauisch und ängstlich würde. Andererseits konnten sie einen auch stark machen, stark, abgeklärt und unabhängig. Vielleicht machte es einen aber auch gleichgültig gegenüber eigenen Wünschen und Ansprüchen, immun gegenüber Gefahren und entschlossen, immer nur zu tun, was einem gerade gefiel.
Reuben wusste, dass es noch ein Dutzend andere Möglichkeiten gab, etwas über Laura in Erfahrung zu bringen – Kreditkarten, Autokennzeichen, Bankauskunft. Aber das wäre nicht fair gewesen. Nur eins wollte er noch unbedingt wissen, und zwar ihre Adresse. Sie war leicht zu finden. Über ihr Haus waren mehrere Artikel geschrieben worden. Es hatte einmal ihrem Großvater gehört, Harper Dennys, und war ein Relikt aus einer anderen Zeit, denn niemand könnte oder dürfte heute noch ein Haus bauen, das so tief in einem geschützten Waldgebiet lag.
Reuben stand auf, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, und umrundete das kleine Motel. Es regnete wieder, aber es war nicht viel mehr als ein Nieseln. Es würde nicht schwer sein, nach Einbruch der Dunkelheit den bewaldeten Hügel zu erklimmen und in den Wald von Mill Valley zu gelangen. Und von dort war es nicht mehr weit bis zu den
Weitere Kostenlose Bücher