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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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könne das verstehen.
    Er musste sich von Celeste trennen. Gerade jetzt sehnte er sich nach ihrer Freundschaft, aber alles hatte sich zu einem furchtbaren Albtraum entwickelt, für den sie nichts konnte und an dem sie keinerlei Anteil hatte. Er überlegte, wie er es ihr schonend beibringen konnte.
    Seine E-Mail endete: «Ich hoffe, du hast dich mit Mort gut amüsiert. Ich weiß ja, wie gern du ihn hast.»
    Würde sie sich davon ermutigt fühlen, die Sache mit Mort weiterzutreiben, oder klang es eher so, als wollte er ihr indirekt Vorwürfe machen? Er fügte hinzu: «Mit Mort hast du dich immer gut verstanden. Ich dagegen habe mich verändert. Wir wissen es beide. Ich muss endlich aufhören, es zu leugnen. Ich bin einfach nicht mehr derselbe.»
    Es war ungefähr halb fünf. Draußen war es noch dunkel. Er war nicht müde und wurde immer unruhiger. Diese Unruhe war nicht so quälend wie in Mendocino, aber auch nicht gerade angenehm.
    Plötzlich hörte er einen Schuss. Von wo war er gekommen? Er stand von dem kleinen Motelschreibtisch auf und ging ans Fenster. Auf der Lombard Street war nichts zu sehen. Ein paar Nachtschwärmer gingen unter den hellen Straßenlaternen langsam ihrer Wege.
    Seine Muskeln waren angespannt. Er hörte etwas, das sich scharf von den anderen Geräuschen abhob. Ein wimmernder Mann, der sich selbst zuredete, er müsse die Sache zu Ende bringen. Dann eine Frau, die auf den Mann einredete.
Tu den Kindern nichts! Bitte, bitte, tu den Kindern nichts!
Dann folgte ein Schuss.
    Aus seinem Innersten rollten wellenartig Krämpfe durch seinen Körper, die ihn völlig außer Gefecht setzten. Er beugte sich vornüber, spürte, wie seine Poren atmeten und überall auf seiner Brust und den Armen neues Fell zu sprießen begann. Schon wieder eine Verwandlung! Dieses Mal ging es schneller. Schlagartig überkam ihn die Ekstase, und die nächste Krampfwelle lähmte ihn einen Moment lang vor Lust und Kraft.
    Sekunden später verließ er das Zimmer und war auf den Dächern.
    Der Mann weinte und schrie und erging sich in Mitleid für die, die er töten «musste», und für seine Frau, die bereits tot war, und vor allem für sich selbst. Zielstrebig bewegte sich Reuben auf die Stimme des Mannes zu.
    Dann stieg ihm der Gestank in die Nase, der widerliche Gestank von Feigheit und Hass.
    Mit einem gewaltigen Sprung von Dach zu Dach überquerte er eine Straße und lief, so schnell er konnte, auf ein hübsches weißes Haus zu. An der Rückseite des Hauses stieg er auf den Balkon im zweiten Stock hinab, schlug die Balkontür ein und betrat die Wohnung. Das einzige Licht kam von den Straßenlaternen. Trotzdem erkannte er das aufgeräumte, liebevoll eingerichtete Zimmer klar und deutlich.
    Die Frau lag tot auf einem großen Bett. Blut strömte aus ihrem Kopf. Der Mann, der sich über sie beugte, war barfuß und trug nur eine Pyjamahose. Er hielt ein Gewehr in der Hand, weinte und schluchzte. Starker Alkoholdunst mischte sich mit dem Geruch von Hass und Wut. «Sie verdienen es nicht anders … sie zwingen mich dazu … niemals würden sie mich zufrieden lassen … ich muss es tun … muss es zu Ende bringen», stammelte der Mann vor sich hin, als stritte er mit einem unsichtbaren Dritten. Dann richtete er den irren Blick auf Reuben, aber es war nicht auszumachen, ob er überhaupt etwas sah. Er weinte und wimmerte. Dann lud er das Gewehr noch einmal durch.
    Ganz ruhig ging Reuben auf ihn zu und nahm ihm die Waffe ab. Dann legte er die Pfoten um seinen dicken, schweißüberströmten Hals und drückte zu, bis das Genick brach.
    Der Mann sackte in sich zusammen.
    Reuben legte das Gewehr auf die Kommode.
    Auf den goldgerahmten Spiegel der Kommode hatte jemand mit Lippenstift einen Abschiedsgruß geschrieben. Die Schrift war so zittrig, dass man sie kaum lesen konnte.
    Reuben eilte durch den schmalen Hausflur und folgte dem Geruch von Kindern. Es war ein süßlicher, sehr angenehmer Geruch. Lautlos bewegte sich Reuben durchs Haus. Hinter einer Tür hörte er ein Kind flüstern.
    Vorsichtig öffnete er die Tür. Das kleine Mädchen hatte die Knie unter dem Nachthemd angezogen und hockte in seinem Bettchen. Ihr jüngerer Bruder kuschelte sich an sie. Der blonde Junge war höchstens drei Jahre alt.
    Seine Schwester machte große Augen, als sie Reuben sah.
    «Der Wolfsmensch», sagte sie und strahlte.
    Reuben nickte. «Wenn ich wieder weg bin, müsst ihr hier im Zimmer bleiben», sagte er freundlich. «Ihr müsst warten, bis die

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