Das Geschenk der Wölfe
anstellen.»
«Danke», sagte Jim. «Bitte bleib mit mir in Kontakt, Reuben!»
«Mach ich, Jim.»
Reuben griff nach dem Vorhang.
«Warte!», sagte Jim. «Sprich Bußgebete, Reuben! Sprich sie aus vollem Herzen!» Jims Stimme wurde ganz heiser. «Hiermit erteile ich dir Vergebung deiner Sünden.»
Es berührte Reuben zu hören, wie nahe seinem Bruder das alles ging. Mit gesenktem Kopf murmelte er: «Gott, vergib mir. Vergib meine Mordgelüste und die Tatsache, dass ich von all dem Neuen völlig fasziniert bin und es nicht mehr missen möchte. Ich wäre mir nur gern sicher, dass es etwas Gutes ist.» Er seufzte und zitierte den heiligen Augustinus: «Gott, mach mich rein, aber nicht gleich heute.»
Jim vertiefte sich ins Gebet. Schließlich sagte er: «Gott schütze dich.»
«Warum sollte er das tun?», fragte Reuben.
Mit der größten Selbstverständlichkeit sagte Jim fast kindlich naiv: «Weil er dich erschaffen hat. Egal wer oder was du bist – er hat dich erschaffen. Und er allein weiß, warum und zu welchem Zweck du bist, wie du bist.»
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14
Ü ber die Dächer kehrte Reuben ins Motel zurück und schloss sich in sein Zimmer ein. Die halbe Nacht lang versuchte er sich zurückzuverwandeln. Solange er Klauen an den Händen hatte, konnte er seinen Computer nicht benutzen. Auch die Bücher, die er sich besorgt hatte, konnte er nicht lesen.
Auto zu fahren wagte er nicht. Er hatte gemerkt, wie schwer es in diesem Zustand war, als er die Kidnapper verfolgte. Außerdem konnte er nicht riskieren, gesehen oder in seinem eigenen Wagen angehalten zu werden.
Auch nach draußen zu gehen wagte er nicht.
Doch wie sehr er es auch versuchte – er konnte die Rückverwandlung nicht herbeiführen.
Aus allen Richtungen hörte er nächtliche Stimmen. Auch als er bei Jim war, hatte er sie die ganze Zeit gehört.
Er wagte nicht, sich auf eine davon zu konzentrieren, denn er fürchtete, dass er sich aufmachen würde, wenn eine Stimme ihn besonders lockte.
Gleichzeitig machte ihn der Gedanke ganz elend, dass er jemanden vor schrecklichem Leid oder gar dem Tod retten könnte, wenn er nur dazu bereit wäre. Er kauerte sich in eine Ecke und versuchte zu schlafen, aber das konnte er nicht.
Gegen drei Uhr, viel früher als sonst, verwandelte er sich in seine menschliche Gestalt zurück.
Wie immer war es ein orgiastisches Erlebnis, das ihn der Ohnmacht nahe brachte. Wieder beobachtete er das Geschehen im Spiegel und machte mit seinem iPhone Fotos davon. Schließlich stand er vor dem alten Reuben Golding, den er so gut zu kennen glaubte, und doch hatten der Reuben vorm und der im Spiegel einander jetzt nichts zu sagen. Seine Hände erschienen ihm ungewohnt feingliedrig, und er wunderte sich darüber, dass er sich in seiner menschlichen Gestalt nicht ungeheuer verletzlich vorkam. Stattdessen fühlte er sich ausgesprochen stark und in der Lage, allem Paroli zu bieten, was ihn in Wolfs- oder Menschengestalt bedrohte.
Als die Verwandlung abgeschlossen war, fühlte er sich nicht mehr besonders müde oder erschöpft. Trotzdem beschloss er, unter die Dusche zu gehen und ein wenig zu schlafen, bevor er aufbrach.
Doch zuerst checkte er die Nachrichten auf seinem iPhone. Seit zwei Tagen hatte er sonst mit keinem aus der Familie oder Celeste gesprochen, und Jim durfte niemandem verraten, dass er seinen Bruder auch nur gesehen hatte.
Es gab kaum jemanden, der ihm in der Zwischenzeit keine SMS oder E-Mail geschickt hatte. Auch Galton hatte sich gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er die Fernseher wunschgemäß installiert hatte. Und er hatte eine weitere Neuigkeit: Zwei riesige Orchideenbäume seien aus Florida eingetroffen. Offenbar seien sie von Marchent Nideck bestellt worden, kurz bevor sie ermordet wurde. Galton fragte, ob Reuben diese Bäume behalten wolle.
Reuben spürte einen Kloß im Hals und verstand zum ersten Mal im Leben, was diese klischeehafte Redewendung bedeuten sollte. Ja, unbedingt wollte er diese Orchideenbäume behalten! Er würde Galton beauftragen, noch mehr Pflanzen zu bestellen.
Er verschickte eine Reihe von E-Mails. Um diese Zeit würde niemand mehr wach sein und ihm gleich antworten. Er teilte Grace mit, dass es ihm gutgehe. Er sei in Kap Nideck vollauf beschäftigt und müsse dort allerlei regeln. An Phil schrieb er ungefähr das Gleiche. Billie schrieb er, er arbeite an einem längeren Artikel über den Wolfsmenschen. Celeste ließ er wissen, dass er etwas Ruhe brauche und hoffe, sie
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