Das Geschenk des Osiris
Flotte am Anleger von Abydos festgemacht hatte, wurde der Pharao von Ipuwer begrüßt, der sich vor dem König auf den Boden warf und mit der Stirn den gepflasterten Weg berührte, der den Tempelanleger mit dem Eingangspylon verband. Mit Ipuwer waren alle Mitglieder der höheren Priesterschaft erschienen. Die niederen Priester bildeten links und rechts des Wegs ein Ehrenspalier, durch das Ramses und sein Gefolge schreiten sollten. Etwas abseits der Priesterschaft lagen die Hilfskräfte des Gottes im Staub, um ihrem Herrscher zu huldigen.
Ramses ’ Blick glitt über die gebeugten Rücken der ihm zu Füßen liegenden Menschen. Alle Priester waren in makellos weißes Leinen gewandet. Ihre frisch rasierten, gesalbten Schädel glänzten in der Sonne. Auch die Diener waren für diesen Tag neu eingekleidet worden, um die Augen des Herrschers zu erfreuen.
»Willst du sie nicht aufstehen lassen?«, fragte Isis in flüsterndem Ton, da ihr Gemahl kein Zeichen gab, dass sie sich erheben durften.
»Warum sollte ich?«, erwiderte Ramses. »Lass sie mir noch ein wenig ihre Ergebenheit bekunden. In den folgenden Tagen werde ich Fragen stellen, auf die ich Antworten verlange. Dann werden sie sich wünschen, vor mir wieder im Staub zu liegen.«
Es herrschte absolute Stille. Nur das Zwitschern der Vögel war zu hören, als er endlich das Zeichen zum Aufstehen gab. Dann schritt er in Begleitung seines Gefolges und der höheren Priesterschaft den Weg hinauf zum Tempelpylon. Im heiligen Bezirk angekommen, zog er sich sofort in den Palastbereich zurück, der bereits für seine Ankunft hergerichtet worden war, um am nächsten Morgen dem Gott ausgeschlafen gegenübertreten zu können.
Vor Sonnenaufgang versammelten sich die Priester am Heiligen Becken, um sich zu reinigen, und formierten sich anschließend im Vorhof des Tempels zu einem Prozessionszug, der vom Pharao und dem Schatzmeister in Vertretung des Oberpriesters angeführt wurde.
Die schweren Tempeltore schwangen auf, und langsam setzte sich der feierliche Zug in Bewegung. Über leicht ansteigende Rampen betraten die Priester den Säulensaal, in dem die Decke auf mächtigen Papyrusbündelsäulen ruhte und den Eindruck eines Papyrusdickichts vermitteln sollte. Bei Tage drang nur das gedämpfte Licht der unter der Decke befindlichen Fenster in den Saal und erzeugte ein faszinierendes Spiel aus Licht und Schatten. Jetzt war es noch dunkel, und nur die Flammen der kunstvoll verzierten Öllampen warfen geheimnisvoll flackerndes Licht auf die Wände. Die Decke war blau gestrichen und über und über mit goldenen Sternen dekoriert als Versinnbildlichung des Himmels, während die in leuchtenden Farben bemalten Reliefs der Säulen religiöse Szenen zeigten, in denen Osiris, seine Gemahlin Isis und deren gemeinsamer Sohn Horus eine entscheidende Rolle spielten. Vom Säulensaal ging es immer tiefer hinein in den Tempel. Die Räume und Gänge wurden dunkler und geheimnisvoller, die Decken niedriger, und die Böden stiegen an, bis der Opfersaal erreicht war, hinter dem sich das Allerheiligste befand.
Die Priester stellten die Teller mit den Speisen und die Gefäße mit den Getränken auf die Opfertische. Sie brachten die Kästen mit den Salben und Duftstoffen, Behältnisse mit dem Wasser aus dem Heiligen Becken sowie makellos reines Leinen, mit dem der Gott gekleidet werden sollte. Weihrauch und Sträuße frischer, duftender Blumen wurden im Saal verteilt, um Osiris mit angenehmen Düften den Aufenthalt in seiner Wohnstatt zu versüßen.
Und dann, in jenem Moment, als Re in seiner Barke über den Horizont gefahren kam, erbrach Ramses das tönerne Siegel des Allerheiligsten und öffnete die Türen. Er fiel vor der Statue des Gottes auf die Knie und berührte mit der Stirn den mit Blattgold überzogenen Boden des Heiligtums. Die Priester begannen die heiligen Hymnen zu singen, Netnebu rezitierte die heiligen Texte, und Ramses sprach die vorgeschriebenen Gebete, um den Großen Gott Osiris zu begrüßen und ihn einzuladen, auch diesen Tag in seinem Tempel zu verweilen.
Nach diesen Kulthandlungen wusch Ramses eigenhändig die Statue des Gottes und salbte sie mit den kostbarsten Ölen. Er schminkte sie und legte ihr anschließend neue Gewänder an. Dann besprengte er den Schrein mit heiligem Wasser und verbrannte Weihrauch vor der Statue des Gottes. Zu guter Letzt wurden die Türen zum Allerheiligsten wieder verschlossen und versiegelt, um erst am nächsten Morgen wieder geöffnet zu
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