Das Geschenk des Osiris
Soldaten Satra mit sich zur Pforte zerrten, um das Urteil zu vollstrecken.
Kurz bevor sie den Durchgang erreicht hatten, kam Netnebu auf den Vorhof gestürzt.
»Was geht hier vor?«, rief er, als er die Männer und die sich wehrende Frau erblickte.
»Bitte, Herr, bitte, lass Gnade walten«, flehte Satra ihn an. »Ich soll verstümmelt werden.«
»Warum?« Netnebu begriff nicht ganz, was das alles zu bedeuten hatte.
»Sie hat den Ring ihres Gebieters gestohlen, um damit unerlaubt auf den Vorhof zu gelangen«, beantwortete einer der Soldaten seine Frage. »Der Herr Ipuwer hat befohlen, dass ihr dafür der kleine Finger abgetrennt werden soll.«
»Stimmt das?«, wandte sich Netnebu an Satra, die völlig verängstigt im festen Griff der beiden Tempelwachen hing.
»Ja, aber ich habe doch nur den Ring genommen, um Osiris meine Treue zu schwören. Ich wollte ihn nicht behalten. Das musst du mir glauben, Herr.«
Mitleidig betrachtete Netnebu sie. »Es freut mich, dass du meinen Worten Gehör geschenkt hast und dass du dem Großen Gott Osiris nun dienen willst, Satra. Ich meinte damit aber nicht, dass du den Ring deines Gebieters stehlen solltest, um Osiris das mitzuteilen.« Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und wandte sich in befehlendem Ton den Wachmännern zu. »Bringt sie fort, aber wartet mit der Vollstreckung des Urteils, bis ich mit Ipuwer geredet habe!«
Die Männer verneigten sich ehrerbietig und stießen Satra weiter zu ihren Unterkünften, die sich im Gebäude der Dienerschaft befanden. Dort sperrten sie sie in eine leer stehende Zelle.
Kurze Zeit später erschien Netnebu und teilte mit, dass das Urteil auf fünfundzwanzig Stockhiebe abgemildert worden sei. Dann begab er sich in sein Haus und legte sich wieder in sein Bett.
Kurz drauf kehrte wieder die gewohnte nächtliche Ruhe im Tempelbezirk ein.
* * *
Vier Tage später kam der Oberpriester um die Mittagsstunde zu Bewusstsein. Er schlug die Augen auf und starrte hinauf an die weiß gestrichene Decke, bis er die überraschte Stimme seiner Leibdienerin vernahm, deren ungläubiges Gesicht sich in sein Blickfeld drängte.
»Bist du wach, Herr? Wie geht es dir?«, fragte sie und lächelte ihn freudig an.
Amunhotep wollte ihr antworten, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht, und so entrang sich seinem Mund nur ein raues Gurgeln.
»Nein, du musst nicht reden. Schone deine Kräfte, und lass mich reden, Herr.«
Satra sah kurz hoch und warf dem Soldaten einen flüchtigen Blick zu, doch dieser schaute nur neugierig zu ihnen herüber, machte aber keine Anstalten, dem vor der Tür sitzenden Ipuki Meldung zu erstatten.
»Höre mir gut zu, mein Gebieter«, wandte sie sich in gedämpftem Ton an Amunhotep. »Du wurdest überfallen und mit einer Keule niedergeschlagen. Du hast ein großes Loch in deiner linken Schädelhälfte, das einfach nicht zuheilen will, und du kannst nicht mehr richtig sprechen. Zudem sind dein rechter Arm und dein rechtes Bein bewegungsunfähig. Man wird dir erzählen, dass böse Dämonen in dein Herz gefahren sind und von dort deinen Körper in ihren Besitz genommen haben und dass man diese Geister nur mit Magie aus deinem Körper vertreiben kann, aber das ist völliger Unsinn.« Sie machte eine Pause und sah erneut verstohlen zu dem Wachposten. »Ich bin zwar keine Heilkundige, ich weiß aber, dass dein Leiden nichts mit bösen Dämonen zu tun hat. Es ist dein Gehirn, das verletzt worden ist, diese graue Masse in deinem Schädel, die ihr Leute des Schwarzen Landes für nutzlos haltet, einzig dazu da, um Schleim zu bilden, der aus der Nase kommt. Für euch ist das Herz der Sitz aller Gedanken und Gefühle, der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus alle Funktionen des Körpers gelenkt werden. Das stimmt aber nicht. Das Herz ist zwar lebenswichtig, da es den Blutkreislauf in Gang hält; all unser Tun und Handeln, selbst das Schlagen des Herzens, wird jedoch durch unser Gehirn bestimmt. Ist das Gehirn tot, so ist auch der Mensch tot.«
Amunhoteps Augen waren verständnislos auf Satra gerichtet. Er schien zwar alles mitbekommen zu haben, was sie ihm gerade erzählt hatte, hatte aber offenbar kein Wort davon verstanden.
»Ich bin, wie gesagt, keine Heilkundige«, fuhr Satra fort. »Es ist alles auch viel komplizierter, als ich es dir erzähle. Ich will aber versuchen, es dir zu erklären.
Das Gehirn besteht aus mehreren Teilen. Es gibt ein Großhirn, ein Kleinhirn und noch einige andere Bereiche, auf die ich nicht eingehen will und
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