Das Geschenk des Osiris
lenken, und so befahl er den Medjai, die Festgenommene erneut zu verhören. Weiterhin schickte er einen Gerichtsdiener zu Senbis Anwesen, um den Kaufmann in seine Amtsräume zu bringen. Der Mann kehrte unverrichteter Dinge zurück. Senbi war nicht da. Er hatte sich auf unbestimmte Zeit auf eine Handelsreise begeben.
Eine Woche später war es dann soweit. Thotmose saß auf seinem Richterstuhl in der Halle der Rechtsprechung, einem Bereich des Gerichts, der sich in unmittelbarer Nähe des thebanischen Gefängnisses befand. Halle war eigentlich nicht der rechte Ausdruck. Es handelte sich vielmehr um einen Hof, der von drei Seiten durch Laubengänge flankiert wurde. An der Stirnseite gegenüber dem Zugang befand sich der Platz des Richters, links davon die Bänke seiner Beisitzer, die aus den unterschiedlichsten Ständen der Bevölkerung rekrutiert wurden. Sie hatten bei der Verhandlung über die Schuld oder Unschuld der Beklagten zu befinden, obwohl letztlich dem Richter die Entscheidung und Festlegung des Strafmaßes zukam. Im vorliegenden Fall handelte es sich um zwei Kaufleute und einen Schreiber sowie einen Priester des Amun und eine Priesterin der Göttin Mut. Weiterhin waren ein Schiffer und eine Hofdame sowie ein Hafenarbeiter und zwei Markthändler zu dieser Verhandlung geladen. Thotmose selbst oblag die Festlegung der Bestrafung, falls der Fall nicht so schwerwiegend war, dass er dem Wesir vorgelegt werden musste. In der bevorstehenden Verhandlung glaubte Thotmose aber nicht, dass er Nehis Rechtsprechung in Anspruch nehmen müsste.
Das anwesende Publikum, das entlang der Längsseiten saß, bestand am heutigen Tag vorwiegend aus hoch gestellten Persönlichkeiten. Senbi genoss, nicht nur in Theben, einen sehr guten Ruf und nannte einen erlesenen Kundenstamm sein Eigen, der bis in die allerhöchsten Kreise reichte.
Thotmose sah zu der Angeklagten, die zusammengesunken vor ihm auf den nackten Steinen des Hofes im heißen Sonnenschein kauerte. Sie war abgemagert, und ihr rotes Haar war wirr und verschmutzt. Sie kniete mit hängenden Schultern vor seinem Richterstuhl, und ihr Rücken war grün und blau geschlagen. Das, was wohl ehemals ein einfaches Leinenkleid gewesen war, klebte schmuddelig und blutig an ihrem ausgemergelten Körper. Sie hatte es sich notdürftig um die Mitte gebunden, um nicht völlig nackt vor Gericht zu erscheinen. Abwesend hielt sie den Kopf gesenkt, während ihre Arme ihren Oberkörper umklammerten, der leicht bebte und zuckte.
Der Blick des Richters erfasste Ibiranu, der links von der Angeklagten im Schatten des Laubengangs auf den Beginn der Verhandlung wartete. Nur von Senbi fehlte jede Spur. Bis heute war er nicht von seiner Handelsreise zurückgekehrt.
Thotmose seufzte und griff nach dem Amulett um seinen Hals, einen in Gold gefassten Lapislazuli in Form einer Feder, das Sinnbild der Göttin Maat, in deren Namen er Recht zu sprechen geschworen hatte. Er blickte auf die auf vier Matten liegenden vierzig Schriftrollen, die die Gesetzestexte enthielten, und sah anschließend fragend zu seinen beiden Schreibern. Beide Männer beantworteten seinen Blick mit einem leichten Nicken. Die Verhandlung konnte beginnen. Er räusperte sich und augenblicklich kehrte Ruhe ein.
»Im Jahr acht, am dreißigsten Tag des zweiten Monats der Aussaat, unter der Herrschaft Seiner Majestät, dem von der Biene und dem von der Binse, Menmaatre Meriamun Ramses, dem es gewährt sein möge, wie sein Vater Re ewig zu leben, und im Namen der Göttin Maat eröffne ich diese Verhandlung. Kläger ist der syrische Kaufmann Ibiranu, Beklagter der thebanische Kaufmann Senbi sowie dessen Dienerin.« Er stellte seine zehn Beisitzer namentlich vor und fragte Kläger und Beklagte, ob sie gegen diese Männer und Frauen etwas einzuwenden hätten.
Das war nicht der Fall. Also wandte er sich dem Syrer zu.
»Tritt vor und nenne mir deinen Namen.«
Der Angesprochene gehorchte. »Mein Name ist Ibiranu. Ich bin Holzhändler aus der Stadt Byblos.«
»Welche Klage hast du dem Gericht vorzutragen?«
»Ich klage diese Frau an, deren Namen ich nicht kenne, dass sie mich vergiften wollte. Weiterhin beschuldige ich den Kaufmann Senbi aus Theben, der Auftraggeber der Frau zu sein. Meine Klage liegt dem Gericht vor, Hoher Herr.«
Thotmose wandte sich an die Angeklagte. »Wie ist dein Name, Frau?«
Sie räusperte sich, und ihre Stimme klang dünn, als sie antwortete: »Hoher Herr, mein richtiger Name ist Sarah. Man nennt mich aber
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