Das Geschenk des Osiris
Oberpriester ihn zu beruhigen.
»Ich weiß, mein Freund.« Ramses stand da und starrte hinaus aufs Wasser, wo vor noch nicht einmal einer halben Stunde sein Sohn einen grässlichen Tod gefunden hatte. »Ich muss nach Per-Ramses zurückkehren und die siebzigtägige Trauerzeit einhalten. Das bin ich Ramesse schuldig. Merenptah hat mir erzählt, dass die Frau keine Schuld trifft. Er gibt sich alleine die Schuld an diesem Unglück und hat von mir gefordert, dass ich ihn bestrafe.«
»Und, wirst du es tun?«
Unschlüssig zuckte Ramses mit den Schultern. »Sicher, hätte Merenptah näher bei Ramesse gestanden, hätte er ihn wahrscheinlich festhalten können. Wer aber konnte ahnen, dass mit einem Mal ein Ruck durch die Barke geht, der meinen Sohn aus dem Gleichgewicht bringt und ins Wasser fallen lässt?« Er sah er zu Amunhotep, der den Blick richtig verstand.
»Das bedeutet, du wirst Merenptah nicht bestrafen«, stellte er fest, und Ramses schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, das werde ich nicht. Mein Sohn wird dadurch nicht wieder lebendig. Merenptah macht sich mehr Vorwürfe, als ich oder Isis ihm je machen können. Ich denke, das ist für ihn Bestrafung genug.«
Nachdenklich wiegte Amunhotep den Kopf. »Trotzdem, Majestät, glaubst du nicht, dass einige Leute behaupten werden, dass du deinen Bruder beschützen willst und jeder andere von dir abgeurteilt worden wäre?«
»Die Leute reden immer viel, aber was sollte ich deiner Meinung nach tun? – Die Frau ist unschuldig. Trotzdem könnte ich sie dafür verurteilen, dass sie nicht schneller reagiert hat, um nach meinem Sohn zu greifen. Merenptah ist schuldig, da er nicht pflichtbewusst über Ramesse gewacht hat. Der Schiffsführer ist schuldig, da er nicht vorausgesehen hat, dass es einen Ruck geben wird, der den Prinzen straucheln und in den Nil fallen lässt. Die Getreuen und Ruderknechte könnte ich bestrafen, weil sie es nicht geschafft haben, die Krokodile von meinem Sohn fernzuhalten.« Er machte bedrückt eine Pause und sah dem Priester müde in die Augen. »Ich selbst muss mich bestrafen, weil ich meinem Sohn erlaubt habe, mit seinem Onkel auf das Schiff der Getreuen zu gehen, aber ... es wäre vielleicht auch an Bord der königlichen Barke zu diesem Unglück gekommen, denn unser Schicksal ist von den Göttern vorherbestimmt.«
Amunhotep seufzte. »Du hast recht, Ramses. Irgendwie trifft jeden etwas Schuld, und gegen den Beschluss der Götter sind wir Menschen machtlos.«
»Ja, mein Freund, und selbst der Pharao hat sich dem zu beugen.« Ramses starrte wieder hinaus aufs Wasser. »Aber ich habe dich nicht kommen lassen, um mit dir über diese Dinge zu sprechen. Der eigentliche Grund ist die Frau. Sie wurde wegen eines Verbrechens zu lebenslanger Leibeigenschaft verurteilt. Ich habe beschlossen, sie zu dir in den Tempel zu geben. Ich lasse sie auf dein Schiff bringen, Amunhotep. Kehre mit ihr nach Abydos zurück, und pflege sie gesund. Nach Ablauf der Trauerzeit werde ich meine Reise durch das Land erneut antreten, und irgendwann komme ich dann auch in die heilige Stadt des Osiris. Dann werde ich entscheiden, was weiter mit ihr geschehen soll.«
Ramses dachte einen kurzen Moment nach, ob er Amunhotep von seinem Traum erzählen sollte, behielt ihn dann aber für sich.
»Also breche sofort auf, und kümmere dich um sie. Ich will, dass sie am Leben bleibt.«
* * *
Amunhotep begab sich auf seine Barke, wohin man in der Zwischenzeit auch die schwer verwundete Frau gebracht hatte, und befahl seinem Schiffsführer, abzulegen.
Als das Boot in der Mitte des Nil war, ging der Oberpriester zu ihr und sah sich ihre Verletzungen an. Seine Majestät hatte ihm zu verstehen gegeben, dass ihm etwas an dieser Leibeigenen lag. Der Priester verstand zwar nicht ganz, was das sein könnte; er würde jedoch gehorchen.
Er hockte sich neben sie und begann den Brustkorb und Rücken der Frau abzutasten. Neben seinem Amt als Vorsteher der Osiris-Priesterschaft war er zugleich Arzt, Magier und Baumeister. Diese Leibeigene war zwar verlaust und schmutzig; dennoch verbot ihm sein ärztliches Pflichtbewusstsein, ihr seine Hilfe zu verweigern. Bei seiner Untersuchung stellte er fest, dass sie mehrere offene Wunden an ihrem Körper hatte sowie drei gebrochene Rippen. Am Hinterkopf hatte sie ein Loch im Schädel, aber es sah schlimmer aus, als es war.
Er rief nach seinem Diener, dem er befahl, seine Tasche mit der medizinischen Ausstattung wie Salben, Tränke, Kräuter,
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