Das Geschenk des Osiris
seinem Kelch, um etwas zu trinken. Amunhotep entging jedoch nicht, dass er das Interesse seines Vaters geweckt hatte.
»Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mich das fragst?«
»Ja, Vater. Du entsinnst dich doch sicherlich an jenen Prozess kurz nach Ramses ’ Thronbesteigung. Ein reicher thebanischer Kaufmann hatte versucht, mittels seiner Dienerin einen unliebsamen Konkurrenten zu vergiften?«
Nesamun nickte. »Das konnte wohl keinem entgehen. In ganz Theben gab es kein anderes Gesprächsthema, da jeder angesehene Bürger, der mit diesem Senbi Kontakt hatte, versuchte, seine Beziehungen zu diesem Kaufmann so weit wie möglich herunterzuspielen. Doch vor allem war man sehr geteilter Meinung über das Urteil, das über die angeklagte Frau gefällt worden ist ... und über die Begründung des Richters.« Nesamun schmunzelte verstohlen. »Ich bin mir sicher, dass einige erwartet hatten, dass Thotmose von Nehi streng getadelt wird. Stattdessen wurde er vom neuen Pharao zum Obersten Richter der Stadt ernannt.«
»Ja und?«
Amunhotep verstand nicht ganz den verschmitzten Gesichtsausdruck seines Vaters, doch dieser winkte nur ab, sodass dem jungen Mann bewusst wurde, dass sein Vater mehr wusste, als er ihm sagte. Dennoch beließ er es dabei. Nesamun würde ihm alles mitteilen, was er wissen musste und durfte. Alles andere hatte ihn nicht zu interessieren.
»Der Pharao hat sie zu mir in den Tempel gegeben«, fuhr er deshalb fort. »Sie dient jetzt in meinem Haushalt.«
Überrascht sah Nesamun ihn an. »Man munkelt, sie soll am Tod des Thronfolgers nicht ganz unschuldig sein«, stellte er fest.
»Das entspricht nicht der Wahrheit. Ramses erzählte mir, dass Merenptah ihm das bestätigt habe.«
Nachdenklich fuhr sich Nesamun mit der Hand über seinen kahl rasierten Schädel und nippte an seinem Wein.
»Und was hat das nun mit deiner Frage bezüglich jener Wesen zu tun, die von den Göttern auserwählt wurden?«
Amunhotep räusperte sich, um seine Gedanken zu sortieren. »Vor ein paar Tagen schickte ich meine Dienerin noch spät am Abend ins Lebenshaus, damit sie mir ein paar Schriftrollen holt. Da erschien ihr im Vorhof der Große Gott Osiris. Er trat ihr als leuchtende Erscheinung aus der Statue entgegen, die dort zu seinen Ehren aufgestellt ist, und näherte sich ihr. Sie musste ihm schwören, dem Gott, dem Pharao und mir für alle Zeiten treu zu dienen. Osiris legte ihr seine Hand auf den linken Oberarm und brannte ihr ein Zeichen ein.«
»Wie sieht dieses Zeichen aus?« Die Worte seines Sohnes hatten Nesamun sichtlich aus der Ruhe gebracht.
»Es ähnelt einer Tätowierung und zeigt den Großen Gott Osiris, den König und einen Priester sowie eine Frau, die vor diesen drei Personen kniet.«
Sprachlos schüttelte Nesamun den Kopf. »Dann ist es also wahr. Es gibt sie wirklich. O Amun, ich danke dir!« Er sah nach oben und schloss die Augen. »Ich danke dir, dass ich das noch erleben darf.«
»Du weißt darüber Bescheid?«
»Ja und nein. Ich glaube, ich weiß auch nicht viel mehr als du, denn das ist Wissen, das streng gehütet wird. Nur der Pharao als einziger Hohepriester der Götter und die Priester der obersten Grade dürfen es erfahren.«
Der Amun-Priester war so erregt, dass seine Hand leicht zitterte, als er den Krug nahm, um sich einen weiteren Kelch Wein einzuschenken.
»Amunhotep, selbst ich bin nicht über alles im Bilde. Ich habe zwar alles gelesen, was es darüber in der Bibliothek von Opet-sut zu lesen gibt; ich habe es aber nie geschafft, die geheimen Schriftrollen der anderen Tempel zu studieren. Du weißt, meine Arbeit nimmt mich voll in Anspruch. Außerdem ist Reisen für mich beschwerlich geworden.« Er deutete auf sein verkrüppeltes Bein und beugte sich anschließend Amunhotep zu.
»Gehe nach Heliopolis in den Tempel des Re. Wenn du dort nichts erreichst, wende dich an den Hohepriester des Thot von Hermopolis. Er ist ein alter Freund von mir. Ich habe mich einst mit ihm über dieses Thema ausführlich unterhalten und weiß, dass du dort alle Antworten auf deine Fragen bekommen wirst. Pass jedoch auf, mein Sohn. Es wird nicht leicht sein, die Propheten zu überzeugen, ihr Wissen preiszugeben. Du weißt, dass jeder Tempel einen gewissen Anteil an geheimem Wissen besitzt, den er jedem Fremden gegenüber eifersüchtig hütet. Ich will dir aber ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg geben. Solltest du im Re-Tempel keinen Erfolg haben, der Hohepriester des Thot wird dir behilflich
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