Das Geschenk des Osiris
haben sich daran gewöhnt, dass sie dort sitzt. Also verbiete es ihr nicht. Was hat diese verurteilte Leibeigene denn sonst noch von ihrem Leben?«
Ungläubig starrte Amunhotep zu Ipuwer auf. Das war eine völlig neue Seite, die er an seinem Schatzmeister entdeckte. Hatte das etwas zu bedeuten?
Ipuwer lächelte, noch immer Mitgefühl heuchelnd, verneigte sich vor Amunhotep und zog sich zurück.
Nachdem Ipuwer ein paar Schritte den Gang entlanggegangen war, verharrte er und wartete darauf, dass Amunhotep seinen Schreiber fortschickten würde und in seinem Arbeitszimmer alleine war.
Lange musste er nicht warten. Kurz nach ihm verließ der Mann den Arbeitsbereich seines Herrn. Kurz entschlossen machte Ipuwer kehrt und trat erneut in den Arbeitsbereich des Tempelvorstehers ein.
»Verzeih, Amunhotep, dass ich dich noch einmal störe. Würdest du mir die Ehre erweisen, heute, zur dritten Stunde der Nacht, zusammen mit mir auf das Dach des Tempels zu steigen, damit ich dir etwas Außergewöhnliches zeigen kann?«
»Etwas Außergewöhnliches?« Überrascht blickte Amunhotep den Schatzmeister an.
»Etwas ganz Außergewöhnliches sogar«, versprach Ipuwer und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Aber du scheinst nicht gewillt zu sein, mir zu sagen, was es ist, habe ich recht?«
Der Schatzmeister schmunzelte. »Du wirst staunen, Amunhotep. Ich wollte es auch nicht glauben, als ich es das erste Mal bemerkte.«
»Also gut, Geduld ist eine Tugend.« Amunhotep seufzte leise. »Ich werde zur festgesetzten Zeit da sein, aber nun lass mich allein!«
»Ich danke dir.«
Ipuwer verneigte sich zufrieden und verschwand.
Es hatte geklappt. Amunhotep würde in sein eigenes Verderben laufen. Es gab überhaupt nichts Ungewöhnliches am nächtlichen Himmel zu sehen, aber Amunhotep war Priester und somit an allem interessiert, was er noch nicht kannte. Er würde kommen. Ipuwer brauchte sich nicht einmal zu sorgen, dass er aus Neugier die Stundenpriester ausfragen würde, denn wie er gesagt hatte: Geduld ist eine Tugend.
Frohen Mutes steuerte Ipuwer auf sein Haus zu, um sich vor dem Abendmahl noch zu baden und Dedi zu informieren, dass heute Nacht der Plan in die Tat umgesetzt werden würde.
* * *
Nachdem Ipuwer gegangen war, begab sich Amunhotep in sein Haus und wies Hekaib an, Satra mit zehn Stockhieben bestrafen zu lassen. Anschließend eilte er in die Bibliothek und vertiefte sich erneut in die alten Schriften. Sein Vater hatte angedeutet, dass die Götter in bestimmten Zeitabständen einen göttlichen Gesandten auswählten, um den Menschen auf der Erde zu helfen. Er wollte schauen, ob er etwas darüber finden konnte.
Sein Blick fiel auf die Wasseruhr. Die vorletzte Stunde des Tages hatte bereits begonnen, und noch immer herrschte reges Treiben in der Bibliothek.
Er beugte sich über die Schriftrolle und begann zu lesen. Als er das nächste Mal in das tönerne Innere der Uhr spähte, war es bereits kurz vor der festgesetzten Zeit, zu der er sich mit Ipuwer treffen wollte.
Amunhotep wunderte sich jedes Mal, wie schnell die Zeit verging, wenn er sich in die Bibliothek des Lebenshauses zurückzog, um die alten Schriftrollen zu studieren. Er war so vertieft gewesen, dass er überhaupt nicht bemerkt hatte, dass er inzwischen der Einzige war, der noch über seinen Studien saß. Aber gab es denn etwas Schöneres, als sich mit diesen alten Schriften vertraut zu machen, die hochgelehrte Männer vor Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden verfasst hatten? Für den jungen Tempelvorsteher war es die Erfüllung eines Traums gewesen, als er in Opet-sut in die obere Priesterhierarchie aufgestiegen war. Nun endlich hatten ihm alle Schriften zur Verfügung gestanden, auch jene, die nicht jedem Priester zugänglich waren.
Frauen interessierten sich überhaupt nicht für solcherlei Dinge. Amunhotep war noch nie einer jungen Frau begegnet, mit der er sich über gelehrte Abhandlungen hatte unterhalten können. Frauen stand der Sinn nach schönen Kleidern, Schmuck sowie Klatsch und Tratsch. Selbst die jungen Dinger am Hofe des Pharaos, die in den Genuss von Bildung gekommen waren, unterschieden sich nicht von ihren ungebildeten Geschlechtsgenossinnen. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb Amunhotep schon sehr früh beschlossen hatte, sich nicht zu vermählen. Vorerst zumindest nicht. Er war der körperlichen Liebe zwar nicht abgeneigt, doch dafür musste er nicht heiraten. Nachkommenschaft war ebenfalls vonnöten, damit seiner nach dem
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