Das Geschenk des Osiris
das sind die drei Grundpfeiler, auf denen der Thron des lebenden Horus ’ steht. Sollte jemals einer dieser Pfeiler nicht mehr existieren, wird der Thron der Beiden Länder kippen und mit ihm das Chaos über die Maat siegen. Die Welt wird wieder im Nichts versinken und untergehen. Vergesse diese Worte niemals, mein Priester, verinnerliche sie und lebe nach ihnen. Und nun komm. Ich erlaube dir zum Zeichen meines Vertrauens in einen Sterblichen, dass du mir die Füße küssen darfst.«
Amunhotep war gerührt. In gebückter Haltung kroch er auf die leuchtende Erscheinung zu und berührte vorsichtig mit seinen Lippen erst die rechte, dann die linke Seite der bandagierten Füße. Anschließend legte er zum Zeichen völliger Ergebenheit seine Stirn auf den Spann des Gottes und verharrte so einen Moment, bis die Erscheinung rückwärts schwebend wieder mit dem dunklen Granit der Statue verschmolz.
Tief beeindruckt kam Amunhotep wieder auf die Beine. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er einem Gott gegenübergestanden hatte. Ob seinem Vater oder Großvater vielleicht auch schon einmal Amun, der Verborgene, begegnet war? Amunhotep wusste es nicht. Er nahm das kleine goldene Amulett in seine rechte Hand und verharrte einen kurzen Moment in tiefer Andacht, bevor er sich zur Pforte begab, die zum Wohn- und Arbeitsbereich des Tempelpersonals führte.
Er musste wieder und wieder über die Worte des Gottes nachdenken, und mit einem Mal kam ihm eine Idee. Ipuwer und dessen unglaubliche Entdeckung am nächtlichen Himmel waren vergessen. Dafür war auch noch am kommenden Abend Zeit.
Amunhotep machte kehrt, holte sich eine Fackel und begab sich zügigen Schritts in das Heiligtum von Osiris Sethos I. Er war so aufgeregt, dass er sogar vergaß, zu seinem Schutz einen Soldaten mitzunehmen. Der Weg war jedoch nicht sehr weit. Zudem, wer würde es wagen, auf dem geheiligten Boden von Abydos ’ Westufer den Oberpriester des Osiris zu überfallen?
Außer Atem erreichte er den Totentempel dieses berühmten Pharaos. Anhand der dort verzeichneten Königsliste wollte Amunhotep herauszufinden, welcher Herrscher vor 1460 Jahren regiert hatte. Zuvor benötigte er allerdings eine streng gehütete Abschrift aus dem Heiligtum des Re in Heliopolis, in der die Regierungsjahre eines jeden Pharaos seit Anbeginn der Zeit verzeichnet standen. Sie wurde im Schatzhaus von Sethos ’ Totentempel verwahrt. Der zuständige Priester schaute zwar etwas verwirrt, als Amunhotep sie zur Einsicht haben wollte, kam aber seiner Bitte nach.
Mit der Schriftrolle in der Hand begab sich Amunhotep umgehend in den Bereich des Heiligtums, wo in einem separaten Raum die Königsliste verzeichnet war.
Bewundernd verharrte er vor den sorgfältig ausgeführten Steinmetzarbeiten, die die Kartuschen aller Pharaonen zeigten, die vor Osiris Sethos auf dem Horusthron gesessen hatten. Dem gebildeten Priester war bewusst, dass einige unerwähnt geblieben waren, da sie sich unrechtmäßig die Doppelkrone aufs Haupt gesetzt oder den Beiden Ländern Schaden zugefügt hatten. Er schritt den Gang entlang und betrachtete das Zeugnis vergangener Jahrtausende. Dann konzentrierte er sich darauf, weswegen er gekommen war.
Als er zwei Stunden später wieder in seinem Haus ankam, waren bis auf die Wächter alle schon zu Bett gegangen. Der Posten vor dem Vorraum zu seinem Schlafgemach lehnte dösend an der Wand und nickte ihm müde zu, als er ihn sah. Satra lag auf dem Bauch auf ihrer Matte und schlief etwas unruhig. Amunhotep vermutete, dass ihr der Rücken wehtat.
Was war bloß in sie gefahren?, fragte er sich. Bisher hatte sie ihm keinen Anlass zur Klage gegeben. Irgendwie beschlich Amunhotep das mulmige Gefühl, dass er sie womöglich zu Unrecht hatte bestrafen lassen. Vielleicht hätte er sie vorher zur Rede stellen sollen, anstatt Ipuwers Beschuldigungen blind zu vertrauen. Wenn Amunhotep darüber nachdachte, war die Reaktion des Schatzmeisters viel zu mitfühlend und völlig untypisch gewesen, aber warum sollten Ipuwer oder Dedi gelogen haben? Was könnte ihnen daran gelegen sein, diese, in ihren Augen unbedeutende Dienerin falsch zu beschuldigen?
Amunhotep war ratlos und wusste keine plausible Antwort auf diese Frage.
Seufzend wandte er sich ab und ging in sein Gemach, um zu schlafen.
* * *
Als Satra Amunhotep am Morgen weckte, fühlte sich dieser völlig unausgeschlafen und gähnte ständig. Das Bad und die anschließende Massage machten ihn zwar etwas munterer;
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