Das Geschenk: Roman
Keuschheitsgelübde. Nachdem er sich eingehend über den Zölibat informiert hatte, wollte er doch lieber Rockstar werden.
»Mittlerweile pensioniert und nicht mehr im Dienst«, sagte der heilige Mann freundlich. »Allerdings kleide ich mich immer noch wie ein Priester, da ich keine anderen Sachen besitze außer einem schokoladenbraunen Polyester-Freizeitanzug aus den Siebzigern, für dessen Erwerb ich immer noch um Vergebung bitten muss.«
»Einmal Priester, immer Priester.«
»Ich bin Father Paul Kelly.«
»Tom Langdon. Sie verbringen das Weihnachtsfest in Chicago?«
»Nein, ich fahre nach Los Angeles. Meine Schwester und ihre Kinder und Enkel leben dort. Ich verbringe die Feiertage in ihrem Kreis.«
»Ich habe das gleiche Ziel. Sie nehmen sicher den Southwest Chief, nicht wahr?«
»Ja. Soviel ich gehört habe, werden wir durch eine Landschaft fahren, die man getrost als Gottes Meisterwerk bezeichnen kann.«
»Nach dem Dinner im Salon sehen wir uns bestimmt, Father. Dann können wir uns zusammensetzen und ein paar Zigarren den Garaus machen, die ich mitgebracht habe.« Tom hatte das Mundstück der Tabakspfeife bemerkt, das aus der Jackentasche des Priesters ragte.
Father Kelly belohnte Tom mit einem verschmitzten Lächeln und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es stimmt schon, was man sich so erzählt, mein Sohn – Eisenbahnen sind in der Tat das zivilisierteste Mittel, von einem Punkt des Landes zum anderen zu gelangen, nicht wahr? Und vielleicht bekommen wir ja auch diese Filmleute zu Gesicht«, fügte er hinzu.
»Welche Filmleute?«
Father Kelly beugte sich näher zu Tom und blickte sich argwöhnisch um. Offenbar fürchtete er potenzielle Lauscher. Tom kam sich wie ein Undercoveragent der Baptisten oder Methodisten auf geheimer Mission in Rom vor, wo er einem schwatzhaften Priester bestens gehütete kirchliche Geheimnisse aus der Nase zog, um später fürstlich honorierte, spotttriefende Artikel darüber zu schreiben und im Vatikan eine Lawine hysterischer Aktennotizen auszulösen.
»Diese Filmleute sind in der großen Limousine gekommen, die fast bis an den Zug herangefahren ist. Ich habe mich diskret erkundigt, um wen es sich handelt, weil ich von Natur aus neugierig bin – und weil Menschen sich nun mal dabei wohl fühlen, Priestern alle möglichen Dinge zu beichten. Glauben Sie mir, Tom, wenn Menschen sich etwas vorstellen können, dann beichten sie es, ganz gleich, ob sie es tatsächlich getan haben oder nicht. Und Gott sei Dank haben sie es meist nicht getan. Es sind zwei Personen, wie ich gehört habe. Die eine soll ein berühmter Regisseur oder Produzent oder so etwas sein – obwohl ich den Namen nicht herausfinden konnte –, die andere ist ein Star oder möglicherweise eine Drehbuchautorin. Sie nehmen diesen Zug, um unser schönes Land als Vorbereitung für einen Film zu durchqueren, den sie über eine solche Reise drehen wollen.«
Filmleute, dachte Tom. Ein Filmstar . Vielleicht war das der Grund, weshalb ihm an einer der Personen irgendetwas bekannt vorgekommen war. »Das ist wirklich ein erstaunlicher Zufall«, stellte er fest.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Father Kelly.
Tom erzählte ihm, dass er eine Geschichte über die Eisenbahnfahrt schreiben wollte, was dem älteren Priester sehr zu gefallen schien. »Da haben Sie sich genau das richtige Thema ausgesucht. Ich bin im Laufe meines Lebens mit unzähligen Zügen gefahren und muss sagen, dass Eisenbahnen stets voller Überraschungen stecken.«
»Das wird auch mir allmählich klar«, sagte Tom.
KAPITEL 6
Nach seinem kurzen Gespräch mit Father Kelly durchquerte Tom den nächsten Teil des Waggons. Hier befanden sich die Standardabteile ohne eigene Toilette oder Dusche. Gemeinschaftstoiletten gab es in beiden Etagen; in der unteren gab es außerdem Gemeinschaftsduschen, wie Regina ihn aufgeklärt hatte. Tom hatte schon beschlossen, lieber diese zu benutzen; denn er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, in der Dusche in seinem Abteil stecken zu bleiben. In der Luxusklasse des Schlafwagens lagen die Abteile auf der einen Seite, der Gang auf der anderen, während die Abteile in der Standardklasse kleiner waren und sich zu beiden Seiten des Waggons hinzogen, durch einen Mittelgang voneinander getrennt. Tom bemerkte, dass der Gang vor ihm durch zwei Hände versperrt wurde, die einander festhielten.
Als er näher kam, sah er, dass die Hände dem nervösen jungen Paar gehörten. Ihre Abteile lagen einander gegenüber – das des
Weitere Kostenlose Bücher