Das Geschenk: Roman
gutgemacht, doch die Verspätung betrug immer noch gut zwei Stunden. Schließlich schlief Tom erschöpft ein.
Um halb sechs in der Frühe erwachte die Sprechanlage zum Leben, und Tyrones Stimme begrüßte ihn. »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es ist ein schöner Tag heute!« Dann gab er durch, dass der Zug Verspätung hatte, das Frühstück jedoch pünktlich serviert würde und zur Feier des Tages mit einem Medley alter Weihnachtslieder von Elvis Presley untermalt würde. Ein Service des Hauses.
Tom benutzte die geräumigeren Duschen in der unteren Etage und musste dort warten, weil ein anderer Passagier sich vor ihm eingefunden hatte. Der Mann ließ seine Uhr im Umkleideraum liegen, doch Tom entdeckte sie und gab sie dem Mann, ehe er den Waggon verlassen hatte. Im Speisewagen nahm er zusammen mit Father Kelly das Frühstück ein. Der Geistliche war guter Dinge, obwohl sein Kruzifix noch immer verschwunden war. Er senkte die Stimme und fragte Tom, ob er im Zug zufällig einen nackten, hysterischen Mann gesehen habe. Tom leugnete jegliche Kenntnis von einem solch seltsamen Vorfall und empfahl dem Priester, in Zukunft dafür zu sorgen, dass er mehr Schlaf bekam.
Sie beobachteten, wie der neue Tag heraufzog, während sie in Toledo einfuhren, wo der Zug abermals Wasser aufnahm. Später, in der Weite von Nord-Indiana, sah Tom aus dem Salonwagen einen Pferdeschlitten mit einer Familie, der durchs Schneetreiben glitt. Es war ein Bild wie auf einer Ansichtskarte, und es erinnerte ihn an einen ganz besonderen Tag, den er und Eleanor vor Jahren erlebt hatten.
Sie waren zum Skilaufen nach Österreich gereist, in eines der mondänsten Wintersportgebiete Europas. Dort hatten sie sich nach Tagen aufregender Abfahrten einen Ruhetag gegönnt, einen Pferdeschlitten mit Kutscher gemietet und einen Ausflug in die schönste, von jungfräulichem Schnee bedeckte Gegend unternommen, die sie je gesehen hatten. Sie hatten das Mittagessen vor dem prasselnden Feuer eines offenen Kamins in einer alten Burg eingenommen; dann waren sie bei Vollmond zurückgefahren. Es war ein unvergesslicher Tag gewesen, der sich jedoch nicht wiederholen würde, denn eins war Tom klar: Er würde nie mehr mit einer Frau eine solche Schlittenfahrt machen.
Der Capitol Limited traf um halb zwölf mittags in Chicago ein, nachdem den Passagieren als Ausgleich für die Verspätung ein zusätzliches Mittagessen serviert worden war. Post- und Expresswaggons wurden abgehängt; dann rollte der Zug langsam rückwärts in den Bahnhof. Tom kam mit seinem Gepäck herunter, bedankte sich bei Regina und gab ihr ein großzügiges Trinkgeld.
»Ich glaube fast, ich sollte Ihnen was bezahlen«, sagte sie, und sie umarmten sich kurz. »Ich mache Sie im Wartesaal noch mit meiner Mutter bekannt, ehe der Chief abfährt.«
»Ich freue mich sehr, Ihre Mutter kennen zu lernen, wenn sie nur halb so toll ist, wie Sie sagen.«
Tom sah Herrick Higgins ein Stück weiter aus dem Zug steigen. Er machte Regina auf Herrick aufmerksam. »Ein interessanter Mann. Zu schade, dass er sich zur Ruhe setzen musste. Er scheint die Eisenbahn von Herzen zu lieben.«
Regina schüttelte den Kopf. »Herrick hat sich nicht zur Ruhe gesetzt. Er wurde sozusagen ausgemustert. Kosteneinsparungen, hieß es. Es traf ihn und zweihundert andere Angestellte. Eine Schande. Dieser Mann weiß mehr über die Eisenbahn als jeder andere. Er fährt auf eigene Kosten mit den Zügen. Wenn wir Platz haben, lassen wir ihn bei uns im Liegewagen schlafen. Es ist wirklich traurig.«
Tom entdeckte Max und Kristobal und beeilte sich, die beiden einzuholen.
»Ich habe gehört, Sie hatten einen interessanten Abend«, meinte Max.
»So würde ich es nicht gerade ausdrücken«, sagte Kristobal.
»Wo ist Eleanor?«, fragte Tom.
»Sie ist schon in der Halle.« Max wirkte leicht verärgert. »Ich glaube, sie versucht, einen Flug nach LA zu kriegen. Das gefällt mir gar nicht. Könnten Sie nicht mal mit ihr reden, Tom?«
Tom lachte. »Wenn Sie wollen, dass sie erst recht ein Flugzeug nimmt, rede ich mit ihr. Ansonsten sollte ich mich lieber raushalten.«
Während der Schnee immer dichter fiel, strebten sie der Wärme der betriebsamen Union Station von Chicago entgegen, nachdem ihre Reise mit dem legendären Capitol Limited beendet war. Vor ihnen lagen jetzt der Southwest Chief und eine Strecke von rund zweitausenddreihundert weiteren Meilen – fast das Dreifache der Strecke, die sie hinter sich hatten – mit
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