Das geschenkte Gesicht
könnte mich ja auch hinsetzen und sagen: ›So, jetzt wartest du, bis der Iwan wieder aus deiner Stadt 'raus ist.‹ Einmal muß er ja gehen. Mensch, wo kämen wir da hin? Weitergehen muß es, rundlaufen muß der Motor, sonst wird er sauer! Was ihr macht, ist Blödsinn. Im Keller hocken und sagen: ›Es wird schon werden.‹«
»Bitte, gehen Sie«, sagte Frau Schwabe eisig. »Wir brauchen Ihre Lebensphilosophie nicht. Wir wissen, was wir tun werden, wenn Erich zurückkommt.«
»Heulen werdet ihr, Kohldampf zu dritt schieben und auf 'n Wunder warten! Es gibt aber in Deutschland keine Wunder mehr. Das letzte war, daß wir noch leben!«
Er trappte die Treppe hinauf, die Hände in den Taschen, die Schultern nach vorn gedrückt. Oben am angeschlagenen Hauseingang lehnte noch immer Ursula und wartete. Als sie Petsch aus dem Keller steigen sah, lief sie ein paar Schritte weiter in die Trümmerberge hinein. Karlheinz Petsch blieb stehen.
»Bin ich ein Wolf?« schrie er zu der zitternden Uschi hinüber. »Ich schlage mich durch Russen, Engländer und Amerikaner durch, um euch 'ne Freude zu machen, und ihr behandelt mich wie ein Stück Dreck!« Er holte tief Atem, griff in die ausgebeulten Taschen seiner Hose und zerrte eine flache Schachtel mit Schoka-Cola hervor, wie sie die Flieger als Sonderverpflegung erhalten hatten. Er legte die Blechdose auf den stehengebliebenen Sockel einer einstigen Zwischenwand und winkte mit dem Kopf. »Hol sie dir. Seit drei Monaten schleppe ich sie mit 'rum. Die bringste der Uschi mit, hab' ich gedacht. Wann hat die zum letztenmal Schokolade gesehen.« Er zögerte, wartete auf eine Antwort, aber als Ursula schwieg, hob er wieder die Schultern. »Also dann nicht, Mädchen. Ich ziehe drei Keller weiter ein. Hab' ihn schon angeguckt, er ist trocken und groß. Und wennste mich brauchst, ich bin immer da. Nicht nur jetzt. Auch wenn der Erich wiederkommt!«
Ursula wartete, bis Karlheinz Petsch über die Trümmer kletterte und hinter den Schuttbergen verschwand. Dann rannte sie zurück zum Keller, an der Schokolade vorbei, und stolperte die Treppe hinab.
Frau Schwabe saß mit versteinertem Gesicht auf ihrem Bett. Das Bild Erichs hielt sie in den Händen und starrte sein lachendes, jugendfröhliches Gesicht an.
»Ich fahre nach Bernegg«, schluchzte Ursula. »Ich fahre morgen schon nach Bernegg, Mutter. Ich … ich will hier nicht mehr bleiben.«
»Es ist gut«, sagte Frau Schwabe und starrte weiter auf das Bild. »Fahr du nur. Es kann dir nur gut tun. Und Erich auch!«
In der Nacht stand Ursula auf und schlich nach draußen. Sie holte die Schokolade.
Die Rechnung Wastl Feiningers mit dem Sergeanten Bill Rondey ging nicht auf. Sie erwies sich als ausgesprochener Fehlschlag. Rondey bekam wegen seines zertrümmerten Kiefers nur flüssige Nahrung, genau abgemessen. Für die Stube B/14 blieb da nichts übrig, ganz davon abgesehen, daß diese Ernährung nicht in der Geschmacksrichtung lag, die man erhofft hatte. Man hatte an Speck und Eier gedacht, an Marmelade, Schmalz und Keks, an Schokolade, Fruchtstangen und Nescafé, an Schinken, Käse und Hühnchen, die tiefgefroren kistenweise direkt aus Amerika in Bernegg ankamen.
»Blöde Hunde sind wir!« sagte der Berliner. »Det müßten wir doch von uns kennen! Wie lange haben wir gebraucht, bis det erste feste Essen kam? Als ob bei 'nem Ami die Visage schneller heilt!«
Der einzige Gewinn war die Fotosammlung. Aber sie stillte nicht den Hunger, im Gegenteil, sie machte hungrig, wenn auch anders. Zwei Wochen nach der Kapitulation holte man Bill Rondey ab. Er sollte nach Amerika geflogen werden, in ein amerikanisches Spezialkrankenhaus für Gesichtsverletzte, nach San Diego.
»Mach's gut, Junge!« sagte der Berliner, als Rondey auf der Trage lag. Sie drückten ihm alle die Hand und gaben ihm ein Geschenk mit. Es war wieder ein Glasmosaik, das Erich Schwabe aus bemalten Glasscherben gebastelt hatte. Ein Bild von der kleinen Schloßkapelle, mit dem hohen Wald dahinter und dem blinkenden Wasserspiegel des Teichs. Unter dem Bild standen alle Namen der Insassen von Stube B/14.
»A souvenir for you, Bill!« sagte Fritz Adam in seinem holprigen Schulenglisch.
Bill Rondey nickte. Seine hellen, blauen Augen waren plötzlich wäßrig. Er nahm seinen Block und schrieb mit großen Buchstaben:
»I like you all together! – Ich mag euch alle zusammen.«
Dann wurde er von zwei riesigen Negern hinausgetragen, und er winkte mit beiden Armen zurück, bis er um
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