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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Mensch noch mehr verlieren?
    Es war der einzige Tag, dessen Ereignisse noch unter die Haut gingen. Was dann kam, war so weit fort und von so geringem Interesse, daß auf Schloß Bernegg erst der Tag wieder beachtet wurde, an dem die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapitulierte. Am 9. Mai 1945 um 0.01 Uhr war der Krieg zu Ende. Von den noch erhaltenen Kirchtürmen klangen die übriggebliebenen Glocken. In der Kapelle von Schloß Bernegg hing wieder der Glöckner mit dem halben Gesicht am Seil, und der dünne, scheppernde Klang wehte über den frühlingsgrünen Park hin.
    Ein ausgeblutetes Volk sank in die Knie.
    Es hatte dreieinviertel Millionen Wehrmachtstote.
    1,6 Millionen Wehrmachtsvermißte.
    Über eine halbe Million getötete Zivilisten.
    Über zwei Millionen Kriegsbeschädigte.
    1,2 Millionen Kriegerwitwen.
    1,4 Millionen Halbwaisen.
    60.000 Vollwaisen.
    Es war die blutigste Lehre seiner Geschichte.
    Dr. Lisa Mainetti saß im verdunkelten Zimmer Professor Ruschs in einem der Sessel und hörte das Ende des braunen Deutschlands im Radio. Von der Hauptwache herüber klang Grölen und Gesang. Unten in Bernegg wurde Salut geschossen. Vom Tor des Schlosses antworteten die amerikanischen Wachmannschaften. Sie hielten die Maschinenpistolen in den Nachthimmel und feuerten ihre Magazine leer. Dann begannen auch die beiden Panzer zu schießen. Sie zielten in den Wald neben der Schloßmauer, und bei jeder Explosion, bei jedem Zusammenkrachen der hohen Fichten erhob sich ein Johlen und ein Geschrei: »Happy victory!«
    Professor Rusch stand auf und ging in der Dunkelheit zu seinem Bücherschrank. Aus dem unteren Regal räumte er alle Bücher aus, dicke, hohe medizinische Werke, die seit Jahren dort standen und verstaubten. Hinter der Bücherreihe war noch Platz bis zur Rückwand des Schranks. Dort lag, in Packpapier eingewickelt, eine Flasche Wein. Professor Rusch entfernte das Papier und kam zu Lisa Mainetti zurück.
    »Eine 1938er Brauneberger Juffer Auslese«, sagte er. »Es ist die letzte Flasche aus meinem Keller. Für den heutigen Tag habe ich sie aufgehoben. Er mußte ja einmal kommen.«
    Mit dem Korkenzieher an seinem Taschenmesser öffnete er die Flasche und goß den Wein in die Gläser, aus denen sie damals den Whisky getrunken hatten.
    »Nun ist der Krieg vorbei, Lisa«, sagte er feierlich. »Wir haben ihn überlebt. Laß uns das weitere Leben gemeinsam durchstehen.«
    »Ein neuer Antrag, Walter?« Lisa legte beide Hände um ihr Glas.
    »Ja. Vielleicht der letzte.«
    Das Glas in Lisa Mainettis Hand zitterte plötzlich.
    »Warum der letzte?« fragte sie stockend.
    »Wenn du nein sagst, hält mich nichts mehr in Deutschland. Ich weiß es von Major Braddock. Sie werden mit einem Angebot kommen. Bald. Es gibt Ausnahmen im allgemeinen Deutschenhaß. In mir sieht man eine solche Ausnahme. Ich werde zusagen, wenn du nein sagst.«
    »Eine Erpressung, Walter?«
    »Man kann Liebe nicht erpressen.« Professor Rusch lehnte sich zurück. »An deiner Antwort werde ich sehen, ob ich in einer Illusion gelebt habe, ob alles wirklich nur eine Liebe war, die der Krieg gebiert und der Frieden erwürgt. Wir kennen uns über zwei Jahre – wir sollten uns keine solchen Erklärungen mehr zu machen brauchen.«
    Lisa Mainetti hob ihr Glas und trank.
    »Es ist gut, Walter«, sagte sie danach. »Wir können nicht anders.«
    »Was?« Ruschs Stimme wurde atemlos. »Ja – oder nein!«
    »Ja.«
    »Lisa!« Rusch sprang auf. Er warf sein volles Glas mit dem köstlichen Wein an die Wand und riß Dr. Mainetti aus dem Sessel empor. »Lisa! Ich glaube, ich habe als einziger den Krieg gewonnen!«
    In den beiden Fenstern des Zimmers B/14 hingen Schwabe, Adam, der Berliner und Feininger, Kaspar Bloch und Walter Hertz. Sergeant Rondey wurde von ihnen gestützt. Er hatte zwar noch strengste Bettruhe, aber das Siegesfest seiner Landsleute sollte er miterleben und mithören. Auch Kaspar Bloch hörte wieder, aber nur im Rahmen seiner Stube und bei Dr. Lisa Mainetti. Sonst spielte er die Rolle des Tauben weiter, gewarnt durch einen Vorfall im Block C. Dort hatten die Amerikaner alle gehfähigen Kranken der Inneren Abteilung als Gefangene mitgenommen. Nur die Bettlägerigen und die Leute auf den Isolierstationen blieben zurück.
    »Bleib taub, Kaspar!« hatte Fritz Adam geraten, der durch Dora Graff schnellstens über alle Maßnahmen der Amerikaner unterrichtet wurde.
    »Hört das denn nie auf!« schrie Bloch. »Mein Gott, ich will nach zwei Jahren endlich

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