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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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verloren hatte.
    »Alle Väter dürfen die Kinder nur durch das Fenster sehen. Später, nach den ersten Tagen, ist das anders. Ich kann auch bei Ihnen keine Ausnahme machen.« Die Schwester wandte sich zur Tür. »Wenn Sie bitte mitkommen möchten, Ihre Frau können Sie natürlich im Zimmer besuchen, ohne Glasscheibe.«
    »Danke«, sagte Schwabe heiser vor Erregung. »Ich möchte nur das Kind sehen.«
    Er sagte nicht mein Kind, sondern das Kind. Baumann bemerkte es sofort und hielt Schwabe am Arm fest, während die Schwester schon hinaus auf den langen Stationsgang trat.
    »Erich, wenn du Theater machst«, sagte er leise, »ich schwöre es dir: Vor allen hier haue ich dir eine 'runter, daß du ein drittes Gesicht brauchst!«
    »Schon gut.« Erich Schwabe senkte den Kopf. Über sein zerstörtes Gesicht zuckte es. »Wie schön habe ich mir das vorgestellt: Mein Kind ansehen – zum erstenmal, und nun …«
    Die Schwester stand vor einer großen, vielfach geflickten und notdürftig wieder weißlackierten Tür und sah sich unsicher nach Schwabe um. »Haben Sie irgend etwas für das Kind mitgebracht?« fragte sie leise.
    »Nein.«
    Die Schwester zögerte, dann ging sie in die Kinderstation. Neben der geflickten Tür war ein breites, längliches Fenster in die Wand eingelassen. Baumann sah dahinter eine Reihe kleiner, weißer Betten und die hin und her huschende Haube einer anderen Schwester.
    »Komm näher, Erich«, sagte er. »Hier ans Fenster. Sie zeigen es dir gleich.«
    Schwabe kam ein paar Schritte heran und blieb zwei Meter vor dem Fenster stehen. Es war, als habe er Angst, noch weiter näherzutreten, als scheue er davor zurück, sein zerfetztes Gesicht zu eng an die Scheibe zu legen.
    Wie in einem großen Bilderrahmen erschien die Schwester wieder im Fenster. Auf den Armen trug sie ein kleines, strampelndes Bündel. Ein runder, blonder Kopf, zusammengekniffene Augen und zu Fäusten geballte Fingerchen, rosig, zerbrechlich, mit kleinen Wülsten an den Gelenken, ein aufgerissener Mund und ganz fern, ganz gedämpft durch die Scheibe dringend, ein langgezogenes, helles Geschrei.
    Die Schwester lächelte und hob das schreiende Bündel hoch gegen das Fenster.
    Erich Schwabe stand wie aus Stein. Er starrte das Kind an, hatte den Kopf weit vorgebeugt, aber er kam keinen Schritt näher. Die Finger seiner rechten Hand krallten sich in den Arm Baumanns, so wie ein Erstickender sich in Todesangst festklammert. Er sagte kein Wort. Er starrte nur auf das zappelnde Bündel hinter der großen Scheibe, das die Schwester ihm entgegenhielt.
    »Na«, sagte Baumann leise, »sieht es dir nicht ähnlich? Sogar den Hals reißt es auf wie du.«
    Schwabe antwortete nicht. Wie ein müder Bär tappte er die beiden Schritte bis zum Fenster vor und preßte das zerstörte Gesicht gegen das Glas. Ganz nahe war er jetzt dem Kind, nur getrennt durch drei Millimeter dickes Glas. Zögernd hob er die Hand und streichelte mit zitternden Fingern über das Fenster, rund um den pendelnden Kopf des Kindes über dieses schreiende Gesicht. Die Schwester hielt es ganz dicht an die Scheibe, und der Atem ließ das Glas beschlagen, und über diesen Nebel sah Erich Schwabe zwei große, runde, blaue Augen.
    Lautlos rannen aus seinen Augenwinkeln die Tränen über die Falten und Narben. Immer wieder streichelte er mit ergreifender Zärtlichkeit die Scheibe, bis die Schwester das Kind in das Zimmer mit den vielen weißen, kleinen Betten zurücktrug. Schwabe starrte weiter durch das Fenster, er sah, wie man sein Kind flach hinlegte, wie eine weiß bezogene Decke über den winzigen Körper gebreitet wurde, wie ein großes Gazetuch als Schutz gegen Zugluft und Staub über das Bett gespannt wurde.
    Famulus Baumann legte die Hand auf Schwabes Schulter.
    »Na, du Idiot«, sagte er leise, »kommst du jetzt endlich zur Vernunft?«
    Schwabes Kopf zuckte von dem Fenster zurück, als habe man ihn in den Nacken geschlagen. Er steckte die Fäuste in die Taschen des Mantels und zog das Kinn an.
    »Komm«, sagte er laut.
    »Wohin?«
    »Nach Haus.«
    »Ein Stockwerk tiefer liegt Ursula. Sie – sie weiß, daß du heute hier bist. Dr. Mainetti hat es ihr sagen lassen.«
    »Wir gehen«, sagte Schwabe trotzig.
    »Mein Gott, ein solches Kind hat dir deine Frau geschenkt, und du sturer Hund willst nicht einmal …«
    Erich Schwabe wandte sich ab und tappte den langen Gang hinunter. Er stieg die Treppen hinab, ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ die Klinik mit gesenktem Kopf und

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