Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
vertreten.«
    Im großen Saal hatte die Bescherung begonnen.
    Was die Verwundeten gebastelt hatten, wurde an die Waisenkinder verteilt. Als Dank sagten sie Gedichte auf oder machten auch nur einen verlegenen Diener oder Knicks. Der Kreisleiter hatte seinen Schwächeanfall überwunden. Er ließ von zwei Propagandafotografen Aufnahmen machen und untermalte die Bescherung mit markigen Worten wie »Front und Heimat bilden einen Block« oder »Wo die Waffen schweigen, sprechen die Herzen«. Niemand hörte ihm zu, er stand im Wege, wurde herumgeschubst, und der Wastl Feininger, der das Modell einer Sägemühle gebastelt hatte und sie einem Waisenjungen vorführte, trat ihm auf den Fuß und sagte: »Ruck a weng, i muaß dös Mühlradi klappern lassen …«
    In der letzten Stuhlreihe saß Walter Hertz. Man hatte seinen großen Rundstiellappen mit Mull überdeckt und mit Leukoplast verpflastert. So sah er aus wie ein Mann, der einen Ziegenpeter hatte, nur einen nach oben verrutschten. Das Gesicht war völlig schief. Neben ihm saß ein junges Mädchen in BdM-Uniform. Eine grüne Kordel an der Bluse zeigte, daß sie sogar eine Führerin war. Sie saß neben dem schiefen Gesicht, ein wenig gedrückt und fast ängstlich. Ihre Aufgabe, den ihr zugewiesenen Verwundeten zu betreuen, hatte sie erfüllt. Nun hatte sie nichts mehr zu sagen und wußte nicht, wie es weitergehen sollte mit der Betreuung.
    Es hieß, nach der offiziellen Weihnachtsfeier solle getanzt werden. Zwei Akkordeons standen in der Ecke neben der Hitlerbüste. Das Mädchen sah sich verstohlen um. Tanzen, dachte sie. Diese armen Menschen wollen tanzen? Ich glaube, man muß die Augen dabei zumachen.
    Walter Hertz, neben ihr auf den Stuhl geklemmt, die Hände zwischen die Knie gepreßt, suchte ebenfalls nach Worten. Was sagt man zu einem jungen Mädchen, dachte er verzweifelt. Natürlich, was man so sagt, das wußte er. Aber es waren alles Worte eines normal aussehenden Menschen. Fräulein, können wir uns irgendwo treffen, wo nicht soviel um uns herum sind … Wie wär's mit einem Kinobesuch? Oder: Ich weiß, wo noch eine tolle Kapelle spielt, da könnten wir mal eine Sohle hinlegen. Alles Worte und Wünsche von Menschen mit Gesichtern. Was aber sagt ein Mann, der kein Gesicht mehr hat?
    Seine Hemmung war so groß, daß er stocksteif neben dem Mädchen saß und unverwandt die Führerbüste anstarrte. Da er auch nichts gebastelt hatte, weil er handwerklich eine Niete war, konnte er nicht an der allgemeinen Bescherung teilnehmen. So saß er, plötzlich schwitzend vor Verlegenheit, auf seinem Stuhl und kaute auf der Unterlippe.
    Wie eine Erlösung kam ihm ein Gedanke. Er wandte den schiefen Kopf zu dem Mädchen und berührte sie leicht am Arm. Das Mädchen zuckte zusammen und sah ihn an.
    »Ich habe noch gar nicht gefragt, wie Sie heißen«, sagte er. »Sie haben mir so viel Freude gemacht.«
    »Ich heiße Petra Wolfach.«
    »Petra – ein schöner Name. Ich heiße Walter Hertz.«
    »Herz! Wie lustig. Richtig wie Herz?«
    »Nein. Mit tz. Wie der Physiker Heinrich Hertz, der Entdecker der elektromagnetischen Wellen. Nach ihm sind die Einheiten der Frequenzen benannt worden. Hertz, Kilohertz und so weiter …«
    »Wie interessant«, sagte Petra Wolfach.
    Das Gespräch versickerte wieder. Walter Hertz mit tz kaute weiter auf der Unterlippe. Sicherlich versteht sie nichts von Physik, dachte er. Dumm von mir. Man sollte Herz wie Herz heißen, ohne tz. Dann wäre es leichter, ein Gespräch zu beginnen. Er räusperte sich und berührte Petra wieder am Arm.
    »Fräulein Wolfach«, sagte er unsicher. »Es ist nicht meine Schuld, das mit dem tz. Aber trotzdem habe ich ein Herz ohne tz! Und dieses Herz sagt mir, daß es schön wäre, wenn wir mal zusammen ins Kino gehen könnten. Unten spielen sie gerade ›Die große Liebe‹ mit Zarah Leander. Ein paar von meinen Kameraden waren drin. Sie waren hell begeistert.«
    Petra Wolfach sah den Mann mit dem schiefen Gesicht lächelnd an. Wie nett und wie unbeholfen er spricht, dachte sie. Wie alt mag er sein? Bei keinem von ihnen kann man es mehr schätzen. Ihre Gesichter haben die Sprache verloren. Sie sehen alle gleich alt aus – so, als seien sie gerade von Gott geschaffen worden und noch nicht fertig. Gesichter aus einer Arbeitspause der Schöpfung.
    »Das könnte man machen«, sagte sie und nickte ein paarmal. »Bekommen Sie denn Urlaub?«
    »Wenn ich mit der Frau Doktor spreche …« In Walter Hertz glomm ein Glücksgefühl auf und

Weitere Kostenlose Bücher