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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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trag' i alloa!«
    Es war wieder Lisa Mainetti, die die Urlaubsscheine unterschrieb. Sie durfte es nicht, aber für eine Kontrolle genügte es, wenn neben einem Stempel eine Unterschrift stand.
    Dann zog die große Stille über Schloß Bernegg. In den Zimmern saß man um die Radios und hörte die Neujahrsbotschaft von Goebbels und ein schönes Konzert, man trank dünnes Bier und hob sich das Glas Wein für den Zwölfuhrtrunk auf. Man las oder schrieb, spielte Schach oder Skat, und es war eigentlich genauso wie jeden Abend, nur ein wenig stiller, wehmütiger, nachdenklicher.
    Ein neues Jahr. Das letzte des Kriegs?
    Und was kam dann?
    Was wird aus uns, den Menschen ohne Gesicht?
    Vielleicht gab es im neuen Jahr gar kein Deutschland mehr. Aber irgendwie mußte es doch weitergehen. Man konnte doch 60 Millionen nicht einfach auslöschen.
    Professor Rusch und Lisa Mainetti saßen zusammen im Chefzimmer und tranken still eine Flasche Wein. Sie hatten das Licht gelöscht und saßen sich im Dunkeln gegenüber, Schatten in den Polstersesseln, die Rusch aus seiner Wohnung hatte kommen lassen.
    »Wann heiraten wir, Lisa?« fragte er unvermittelt in die Stille hinein.
    »Welche Frage! Erst schreist du mich vor allen Ärzten und den Sanis an …«
    »Ist meine Frage nicht eine einzige große Entschuldigung?«
    »Laß erst Frieden sein, Walter. Wir wissen alle nicht, was uns noch bevorsteht. Vielleicht wird jeder glücklich sein, der dann allein steht, weil er nur sein Leid tragen muß und nicht auch noch das eines anderen.«
    »Du bist die merkwürdigste Frau, die ich je gekannt habe«, sagte Rusch. Er stand auf, beugte sich über Lisa und küßte sie. Sie legte den Arm um seinen Nacken und drückte seinen Kopf an sich.
    So blieben sie beieinander, bis die Tischuhr zwölf schlug. Sie hoben die Gläser, stießen an und tranken das Glas leer.
    »Gott steh' uns bei!« sagte Lisa leise.
    Und plötzlich weinte sie.
    Überall klangen die Gläser zusammen, in den Zimmern, in der Wachstube, bei den Bereitschaftsärzten. Unten in Bernegg in einem Hotelzimmer, aus dessen Fenster Dora Graff und Fritz Adam in die Silvesternacht blickten.
    In Köln, in dem muffigen Keller des Hauses Horst-Wessel-Straße 4, wo Frau Hedwig Schwabe drei Pfannen voll Reibekuchen buk und Ursula den aus einer Sonderzuteilung von schlechtem Rum gemachten Grog mit einem säuerlichen, roten Heißgetränk verlängerte.
    In Würzburg, in einem geschlossenen Bordell, wo Wastl Feininger um 12 Uhr einen Watschentanz vorführte. Und in der Villa Wolfach auf dem Hügel von Bernegg, vor einem flammenden Kamin, ohne Walter Hertz, den einzuladen der Fabrikant Hubert Wolfach seiner Tochter verboten hatte.
    1945.
    Von Bernegg herauf läutete die letzte Glocke, die der totale Krieg übriggelassen hatte. Die kleinen Dorfkirchen im Umkreis fielen mit dünnen, hellen Stimmen ein. Das Glöckchen der Schloßkapelle von Schloß Bernegg bimmelte dazwischen, im Chorraum der Kapelle zog ein Mann an dem alten, morschen Seil, auf und ab, einatmend, ausatmend im Rhythmus des Ziehens.
    Er hatte nur noch ein halbes Gesicht. Die rechte Seite war weggerissen worden. Breite Hautlappen bedeckten die schreckliche Wunde.
    Der Glöckner von Schloß Bernegg wünschte ein gutes neues Jahr.
    Fünf Tage nach Jahresanfang traf Frau Irma Fischer in Bernegg ein. Lisa Mainetti hatte ihr ein Telegramm geschickt. »Ihr Mann schwer verletzt. Bitte kommen.« Sie war sofort in den nächsten Zug nach Würzburg gestiegen, hatte hinter München einen schweren Luftangriff auf die Bahnlinie überstanden und war nun zwei Tage unterwegs, von Zug zu Zug umsteigend, Umwege fahrend, weil die Gleise zerstört waren, auf freier Strecke wartend, weil neue Alarme das Weiterfahren unmöglich machten. In Würzburg endlich hatte sie Glück. Ein Wehrmachtswagen nahm sie mit nach Bernegg, nachdem sie vier Stunden in eisiger Kälte an der Straße gestanden und den wenigen Fahrzeugen gewinkt hatte. Die meisten fuhren in eine andere Richtung.
    Lisa Mainetti wurde von der Hauptwache angerufen, als Frau Fischer dort eintraf. Mit großen, fragenden Augen saß sie auf dem harten Stuhl vor dem alten Tisch und wartete geduldig, was mit ihr geschehen würde.
    Nur einmal fragte sie den Wachhabenden, und es klang schüchtern und verzagt:
    »Kennen Sie einen Leutnant Rudolf Fischer?«
    Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Nee. Ihr Mann?«
    »Ja. Er soll schwer verwundet sein.«
    »Davon haben wir hier in Block B über 150. Die kann man nicht

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