Das geschenkte Leben
du sogar jetzt gleich einen holen kannst. Geh in mein Badezimmer und sieh dich um. Such ein bißchen. Dort sind vier oder fünf kleine Spiegel, in Schubladen und so weiter – oder waren da, als ich noch auf den Beinen war. Steck einen in deine Tasche und paß auf, daß keine Krankenschwester ihn sieht.«
»Warum verlangst du nicht einfach einen?«
»Weil sie mir keinen geben wollen, Jake. Du denkst vielleicht, ich sei schizophren und leide unter Verfolgungswahn, aber ich werde von diesem Arzt tatsächlich drangsaliert. Er läßt mich mein neues Gesicht nicht in einem Spiegel sehen. Gut, es ist wahrscheinlich narbig; das kümmert mich nicht. Sie lassen mich nicht einen einzigen Blick auf meinen Körper werfen. Wenn sie an mir arbeiten, stellen sie unter meinem Kinn eine Art Schirm auf; ich habe noch nicht mal meine Hände gesehen. Ich weiß nicht, welche Hautfarbe ich habe. Bin ich ein Neger? Oder ein Chinese? Oder was anderes? Es ist zum Verrückt werden.«
»Johann, du könntest buchstäblich verrückt werden, wenn du dich sähest, bevor du wieder bei Kräften bist.«
»Was? Sei nicht kindisch, Jake. Ich kann meinen Anblick verkraften, und wenn ich häßlich wie ein Warzenschwein wäre.« Johann Smith grinste. »Vor der Operation war ich häßlich wie die Sünde; jegliche Veränderung zum Schlechteren kann nicht groß sein. Aber ich sage dir eins, und das ist keine Lüge, alter Freund: wenn sie mich weiterhin wie ein zurückgebliebenes Kind behandeln, werden sie wirklich erreichen, daß ich den Verstand verliere.«
Salomon seufzte. »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Johann, aber es ist mir nicht neu, daß sie dich nicht in einen Spiegel sehen lassen wollen …«
»Was?«
»Beruhige dich. Ich habe mit Doktor Hedrick und dem Psychiater gesprochen, der mit ihm arbeitet. Sie befürchten, daß du einen ernsten emotionalen Schock erleiden könntest, der den Heilungserfolg zunichte machen würde, wenn du deinen neuen Körper vor deiner völligen Wiederherstellung zu sehen bekämst.«
Johann Smith antwortete nicht gleich. Dann sagte er ruhig: »Blödsinn. Ich weiß, daß meine äußere Erscheinung jetzt eine andere ist. Das war der Zweck der Sache, nicht? Welcher Schaden könnte mir nach Meinung dieser Klugscheißer daraus entstehen?«
»Der Psychiater erwähnte die Möglichkeit einer gespaltenen Persönlichkeit.«
»Das Problem mit den Psychiatern ist, daß sie selber nichts wissen. Sie brüten Theorien aus, die sie sich dann gegenseitig um die Ohren schlagen. Komm herum und sieh mir in die Augen. Jake Salomon, glaubst du, was der Psychiater dir gesagt hat?«
»Meine Meinung ist weder relevant noch kompetent. Ich werde deinen Ärzten nicht entgegenarbeiten. Und ich werde dir nicht helfen, sie zu überlisten.«
»Also von da weht der Wind. Jake … ich bedaure, daß ich gezwungen bin, dies zu sagen – aber du bist nicht der einzige Anwalt in dieser Stadt.«
»Ich weiß es. Und ich bedaure, daß ich gezwungen bin, dir dies zu sagen, Johann – aber ich bin der einzige Anwalt, an den du dich wenden kannst.«
»Was soll das heißen?«
»Johann, du stehst jetzt unter gerichtlicher Vormundschaft. Ich bin dein Vormund.«
Johann Smith blieb still, dann flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme: »Verschwörung. Ich hätte dir das nie zugetraut, Jake.«
»Johann, Johann!«
»Hast du die Absicht, mich für immer hinter Schloß und Riegel zu halten? Wenn nicht, welches ist der Preis für meine Freilassung? Ist der Richter mit von der Partie? Und Hedrick?«
Salomon sagte mit bebender Stimme: »Bitte, Johann, laß mich sprechen. Ich werde so tun, als hättest du nie gesagt, was du gesagt hast. Und ich werde ein Protokoll des Verfahrens bringen, damit du es selbst lesen kannst. Aber du mußt mich anhören!«
»Ich höre. Wie könnte ich anders? Ich bin ein Gefangener.«
»Johann, du wirst aufhören, ein Mündel zu sein, sobald du persönlich vor Gericht erscheinen kannst und den Richter überzeugst – es ist Richter MacCampbell, ein anständiger Mann, wie du weißt –, daß du nicht länger non compos mentis bist. Er traf die Entscheidung widerwillig – und ich mußte kämpfen, um zu deinem Vormund ernannt zu werden, weil ich nicht der Antragsteller war.«
»So? Und wer verlangte, daß ich unter Vormundschaft gestellt werde?«
»Johanna Darlington Seward, et aliae – das heißt, deine drei anderen Enkelinnen.«
»Ich verstehe«, sagte Johann langsam. »Jake, ich bitte um Entschuldigung.«
Salomon
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