Das Gesetz der Knochen: Thriller (German Edition)
weitermachen oder warten, bis ich zurückkomme. Wie Sie wollen.«
Diane zog ihr Kreidesäckchen aus der Hosentasche und rieb ihre Hände ein, dann suchte sie bereits mit den Händen nach den ersten beiden Griffpunkten, einem kleinen Riss in der Gesteinsoberfläche, in den sie mit den Fingern ihrer rechten Hand hineingreifen konnte, und einen kleinen Wandvorsprung, den sie mit der anderen Hand umklammerte. So arbeitete sie sich langsam die Wand empor, mit den Händen sorgte sie dafür, dass sie niemals die Balance verlor, und mit den Beinen drückte sie sich immer weiter nach oben. Diane liebte das Soloklettern. Sie mochte es, ohne Seil eine Wand emporzusteigen.
Als sie die Öffnung erreicht hatte, zog sie sich über deren unteren Rand hinein. Sie befand sich in einem Höhlengang, der so hoch war, dass sie sich völlig aufrichten konnte. Von hier oben hatte sie einen guten Überblick über die Höhle. Es bot sich ihr ein herrliches Bild. Das Licht ihrer Helmlampen verlieh den unterschiedlichen roten, orangenen, elfenbeinfarbenen und silbernen Farbtönen des Gesteins einen fast unwirklich schimmernden Glanz. Die Stalaktiten sahen wie Eiszapfen aus, und die Stalagmiten mit ihren scharfen Spitzen und ihrer knorrigen Oberfläche ähnelten irgendwelchen verwunschenen Türmen aus Tolkiens Mittelerde. Diane entging nicht die Ironie dieser unirdischen Erscheinung: Nichts war schließlich »irdischer« als eine Höhle.
Sie musterte den Gang genauer. Als sie die Gesteinswand von oben betrachtete, die sie gerade emporgestiegen war, kam ihr der Gedanke, dass der unbekannte Höhlengänger die sechs Meter zwischen diesem Tunnel und dem Höhlenboden hinuntergestürzt sein könnte. Unterhalb der Öffnung war die Höhlenwand ganz leicht konkav, so dass er, wenn er etwas unaufmerksam den Gang entlanggekommen war, dessen Ende vielleicht viel zu spät bemerkt hatte. Von hier oben aus schien ihr das eine ganz brauchbare Hypothese zu sein.
Auf dem Gangboden in der Nähe der Öffnung lag zwar einiges Geröll, aber nichts, worüber man hätte stolpern können. Als sie die Wände näher betrachtete, sah sie kurz über dem Boden etwas Rechteckiges aus dem Fels herausragen. Das war kein Stein. Sie kniete sich hin und untersuchte den Gegenstand. Er sah aus wie ein alter Eisenbahnnagel. Seltsam. Dann fiel ihr ein, dass es sich dabei um einen primitiven Ankerbolzen handeln könnte, mit dem man ein Seil gesichert hatte. Die Ausrüstung des unbekannten Höhlengängers war alt und nicht mit ihrer modernen zu vergleichen.
Einige Zentimeter über dem Nagel entdeckte sie einen Einschnitt in der Felswand. Sie steckte eine Hand in das Loch und befühlte dessen innere Form. In der Mitte dieses Einschnitts gab es noch ein etwas kleineres Loch. Höchst interessant.
In ihrem Kopf begann sich eine neue Hypothese zu formen. Der Unbekannte hatte seinen Eisenbahnnagel in das obere Loch geschlagen, sein Seil daran befestigt und sich dann in die tiefer liegende Höhlenkammer hinuntergelassen. Als allerdings sein gesamtes Gewicht an dem Nagel hing, hatte es diesen aus der Wand gerissen und er war abgestürzt. Wenn sie auf dem Boden der Kammer eine Art Eisenbahnnagel fanden, würde dies ihre Version des Geschehens bestätigen.
Was war dann aber mit dem Nagel, der immer noch in der Wand steckte? Hatte der Unbekannte noch einen Begleiter gehabt? Gewiss hatte er eine solch schwierige Höhlenbegehung nicht ganz allein unternommen. Andererseits … Warum wurde er dann nicht gerettet?
3
D iane dachte über verschiedene Möglichkeiten nach, wie der »Höhlentote«, wie sie ihn jetzt der Einfachheit halber nannte, zu Tode gekommen sein könnte, und ihr kamen dabei ganz unterschiedliche Szenarien in den Sinn. Natürlich war ihr bewusst, dass dies ziemlich sinnlos war, solange sie den Leichnam noch nicht untersucht hatte, aber sie wurde diese Fragen einfach nicht los.
Sie drehte sich um und schaute in den Gang hinein. Er war an der Stelle, wo er sich zur Höhlenkammer hin öffnete, etwa 4,50 Meter hoch und 7,50 Meter breit. Seine Wände, die in allen möglichen Brauntönen schimmerten, waren mit großen Muschelschalen durchsetzt, von denen einige fast 30 Zentimeter lang waren. Sie bildeten Muster, die so regelmäßig waren, dass man meinen könnte, sie seien von Menschenhand geschaffen worden.
Das Kalkgestein der Höhle bestand aus dem Calzium, das von den Skeletten, Schalen und Ausscheidungen einer ungeheuren Menge von Meerestieren stammte. Sie rieb mit den
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