Das Gesetz Der Woelfe
Richter …«, sagte Clara und unterbrach sich: »Ja, deswegen auch.« Sie kippte den zweiten Whiskey und seufzte. »Danke.«
Als sie am nächsten Tag aufwachte, war es erst kurz nach fünf. Es war noch nicht hell, doch ein zaghaftes Morgengrau sickerte bereits durch die dünnen Vorhänge. Clara sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster. Eine Amsel sang irgendwo. Die Luft roch frisch und feucht vom gestrigen Regen, aber der Himmel war klar. Ein letzter Stern leuchtete schwach und hoch oben. In der Ferne hörte sie vereinzelte Autos, ungewöhnlich laut in der frühmorgendlichen Stille, aber gleichzeitig so weit entfernt, dass sie auf dem Mond hätten sein können. Sie ließ die Kühle durch das geöffnete Fenster hereinströmen, während sie sich anzog und Kaffee kochte. Elise warf ihr von ihrer Matratze im Gang einen verschreckten Blick zu und versteckte dann rasch den Kopf unter den großen Pfoten. Solche Aktivitäten zu nachtschlafender Zeit war sie nicht gewöhnt. Doch Clara beruhigte sie mit einer Portion extra Kraulen hinter den Ohren: Der Morgenspaziergang musste noch warten.
Mit Schafwollpullover und dicken Socken setzte sich Clara an ihren Schreibtisch und schloss ihre Hände um die heiße Kaffeetasse. Während der Laptop hochfuhr, kniff sie einen Augenblick die Augen zu und ließ die gestrige Verhandlung noch einmal vor sich ablaufen. Es dauerte nicht lange, und die Wut kam zurück. Doch jetzt ließ sie sie nicht mehr zittern, und ihr Herzschlag beschleunigte sich nicht. Clara dachte nach und ließ sich Zeit dabei. Als die Sonne aufging und die ersten Strahlen durch die Kastanie vor ihrem Fenster auf den Schreibtisch fielen, hämmerte sie endlich die letzten Zeilen in ihren Computer. Mit der kalten Präzision eines Chirurgen zerpflückte sie Wort für Wort von Richter Oberstein, bohrte ihre Argumente so tief sie konnte in die offenen Stellen und ließ ätzende Seitenhiebe auf die Wunden tropfen.
Schließlich war sie fertig. Eine acht Seiten lange Berufungsbegründung, eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Richter Oberstein und eine Haftbeschwerde lagen vor ihr auf dem Schreibtisch.
Schnell zog sie sich um und kitzelte Elise, die noch immer auf ihrer Matratze schnarchte, unter den Rippen, sodass sie mit einem erschreckten Japsen auf die Beine sprang. »Los, meine Teure, ein bisschen die Beine vertreten!«
Während Clara mit Elise an der Seite die Straße hinunter zur Isar schlenderte und sich die honigwarme Frühlingssonne ins Gesicht scheinen ließ, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu den Schriftsätzen zurück, die sauber geheftet und schwungvoll unterschrieben auf ihrem Schreibtisch warteten. Alles in Ordnung, sie konnte zufrieden sein. Dennoch blieb ein unbehagliches Gefühl, das sie nicht benennen konnte. Nachdenklich ging sie die Uferböschung entlang und blickte in das vorbeiströmende Wasser. Es war grün und undurchsichtig wie Milchglas. Dort, wo die Sonnenstrahlen auf das Wasser trafen, sprühten die Wellen kleine Funken.
Was war es nur, was in ihrem Unterbewusstsein hartnäckig hakte und klemmte und nicht passen wollte? Irgendetwas, das über die unangenehme Erfahrung mit Richter Oberstein hinausging, etwas, das hinter den Dingen lag. Unsichtbar, aber dennoch präsent. Plötzlich kam ihr ein verstörender Gedanke. Weshalb hatte Malafonte gewusst, was passieren würde? Ihr stand sein Gesicht vor der Verhandlung vor Augen, seine panische Angst. Übertrieben war sie ihr erschienen, und gleichzeitig hatte sie sie mit Unbehagen erfüllt. Wie eine düstere Prophezeiung, an die man nicht glauben mochte und die einem dennoch Schauer über den Rücken jagt. Was hatten seine wiederholten Fragen nach dem Gefängnis zu bedeuten gehabt, wie stand es mit den Dingen, die er angeblich gehört hatte? Sie hatte das für eines der Märchen gehalten, wie so viele unter denen kursierten, die mit den Mühlen des Gesetzes allzu vertraut waren: aufgebauschte Storys aus nur halbverstandenen Tatsachen, Gerüchten und bewussten Übertreibungen. Und doch … Es war genauso gekommen. Man hatte ihn wegen dieser Bagatelle eingesperrt. Es war etwas passiert, was sie nie für möglich gehalten hatte: Aus purer Willkür und unter Missachtung sämtlicher Rechtsgrundsätze war ein Mensch ins Gefängnis gesteckt worden, der nach dem geltenden Recht dort nie hätte landen dürfen. Und sie hatte es nicht verhindern können …
Clara schüttelte unwirsch den Kopf und ging weiter. Jetzt sah sie schon Gespenster.
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