Das Gesetz Der Woelfe
vage hinzu: »Ich habe es in Ihrem Zimmer in der Pizzeria gefunden.« Sie verschwieg, dass es dieses Zimmer nicht mehr gab. Wenn er nicht schon wusste, dass seine Anwesenheit dort gründlich getilgt worden war, war jetzt nicht der richtige Moment, es ihm zu sagen. Angelo nahm es behutsam entgegen, und seine Augen begannen verdächtig zu glänzen. » Grazie «, flüsterte er und wischte sich verstohlen über das Gesicht.
»Von Ihrer Mutter?«, vermutete Clara aufs Geratewohl, und Angelo nickte. » Sì. Sie hat immer solche Bilder. Die Bettler bei uns zuhause schenken sie einem, wenn man ihnen etwas gibt. Und meine Mutter gibt ihnen immer etwas. Das bringt Glück, sagt sie.« Er verzog den Mund und biss sich auf die Lippen.
»Weiß Ihre Mutter, was Ihnen passiert ist?«, fragte Clara.
Angelo schüttelte den Kopf. »Nein. Das würde sie nur beunruhigen«, antwortete er, und es klang so, als spräche er über irgendein kindisches Abenteuer, das man am besten vor den Eltern verheimlichte.
»In der Tat«, gab Clara trocken zurück. Grund zur Beunruhigung hatte Angelos Mutter allemal.
»Sie hat mir geholfen«, begann Angelo plötzlich, während er weiter auf das abgegriffene Papier in seinen Händen starrte. »Meine Mutter hat mir ihr ganzes gespartes Geld gegeben und die Fahrkarte gekauft. Geh nach München, hat sie gesagt. Dort wohnt eine Verwandte von mir.«
»Rita Zaccardi«, sagte Clara.
Angelo nickte. » Sì. Zia Rita hat mir die Arbeit in der Pizzeria besorgt. Meine Mutter glaubte, ich glaubte …« Er verstummte wieder, und es blieb ungesagt im Raum schweben, woran er und seine Mutter geglaubt hatten.
Clara wagte einen Vorstoß: »Die weiße Katze «, begann sie vorsichtig, »ist das etwas …, jemand aus eurem Dorf?«
Angelo nickte. »Aus San Sebastiano. Ich komme aus Torre Calo, das ist gleich oberhalb davon.«
»Was bedeutet der Name?«, wollte Clara wissen und ihr war, als bewegte sie sich auf einem Minenfeld, vorsichtig, Schritt für Schritt sich vorantastend, immer in Erwartung einer Explosion.
Angelo schnaubte und griff sich in seinen dunklen Haarschopf. »Wegen seiner Haare. Sie sind blond. Früher nannte man bei uns alle so, die blond waren.«
Früher, das bedeutete offenbar, bevor dieser Mann den Spitznamen in Besitz genommen und so mit Angst und Schrecken ausgefüllt hatte, dass es sich von selbst verbot, jemand anderen so zu bezeichnen.
»Wer ist er, wie heißt er wirklich?«, fragte Clara und bot Angelo noch eine ihrer Zigaretten an. Angelo warf ihr einen langen Blick zu. Zum ersten Mal seit sie zusammen auf der Pritsche saßen, hatte Clara das Gefühl, er war tatsächlich hier in diesem Raum. Im Grunde war es das erste Mal überhaupt, seit sie sich begegnet waren, dass er mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei ihr war. Das erste Mal wich der Schleier der Abwehr aus seinen Augen und gab einen tiefen, dunklen Abgrund frei. Seine Augen waren so dunkel, dass man die Pupillen darin nicht von der Iris unterscheiden konnte, und zum ersten Mal sah er ihr damit offen und vollkommen schutzlos ins Gesicht. Clara hatte die unangenehme Empfindung, dieser Blick würde bis in ihre Seele reichen, Bereiche berühren, die sie nicht bloßgelegt haben wollte, und sie war versucht, ihre Augen abzuwenden. Doch sie widerstand dem Drang und hielt seinem Blick so offen wie möglich stand. In dem Moment begann Angelo wieder zu sprechen, und seine Stimme war entschlossener, als je zuvor. »Wollen Sie wissen, was ich getan habe?«, fragte er.
Clara nickte schweigend. Würde er es endlich wagen, sich ihr zu offenbaren?
»Ich war ein Junge«, begann er, den Blick irgendwo auf einen Punkt hinter Claras Kopf gerichtet. »Vielleicht zwölf oder auch schon dreizehn. Unterhalb von unserem Dorf wohnten ein paar reiche Leute.« Er lächelte sein schiefes, um Verzeihung bittendes Lächeln. »Reich waren sie eigentlich nicht. Aber sie hatten Autos und sicher auch richtige Badezimmer. Die Männer arbeiteten alle, und die Frauen gingen nach San Sebastiano hinunter zum Einkaufen. Sie kauften niemals etwas in unserem kleinen Laden oben, obwohl es dort billiger war. Eine dieser Familien hatte ein kleines Mädchen. Nur ein einziges Mädchen, keine anderen Kinder. Sie hieß Chiara, und ihre Haare waren schwarz wie die Flügel eines Raben. Sie waren ganz modern geschnitten, obwohl das Mädchen erst sechs, sieben Jahre alt war.« Er hielt die flache Hand an sein Ohr, deutete die Frisur des kleinen Mädchens an. »Ich habe ihr oft
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