Das Gesetz Der Woelfe
zugesehen, wie sie auf der Straße spielte. Einmal habe ich ihr gewunken, und sie ist hergekommen. Sie hatte gar keine Angst, obwohl ihre Eltern sie sicher gewarnt hatten vor solchen Kerlen wie mir, die oben auf dem Berg wohnten, in Torre Calo, wo es keine Häuser mit Badezimmer gibt und keine Schule und abends keine Straßenbeleuchtung. Doch sie hatte keine Angst. Sie kam herüber zu mir und sagte: › Ciao. Wer bist du?‹
Ich hab ihr einen Kaugummi geschenkt und bin weggefahren mit dem alten Fahrrad, das meiner Mutter gehörte. An der Ecke habe ich mich noch einmal umgedreht und ihr zugewinkt, doch da stand schon ihre Mutter und hat ihr den Kaugummi aus der Hand genommen und weggeworfen. Aber seitdem hat sie mir immer zugewinkt, wenn sie mich gesehen hat. Einmal sogar auf der Piazza in San Sebastiano. Da ist sie mit ihren Eltern an mir vorbeigegangen und hatte ein riesiges Eis in der Hand.« Er verstummte und nahm einen letzten Zug von der Zigarette.
»Und was ist passiert?«, fragte Clara.
»Sie bekam einen Hund. Einen kleinen Hund mit Schlappohren. Sie führte ihn spazieren an einer rosafarbenen Leine, und als ich eines Tages wieder an ihrem Haus vorbeikam, kam sie herausgelaufen und zeigte ihn mir. Er hieß Bricciola, Krümelchen, weil er so klein war.« Angelo schluckte und rieb sich die Augen. Dann fuhr er zögernd fort: »Ich hatte kein Geld damals, niemand hatte Geld, doch man konnte sich welches verdienen. Es gab immer Arbeit, die man tun konnte, um etwas Geld zu verdienen. Er sorgte für seine Leute.« Angelo schloss die Augen und vergrub den Kopf in seinen Händen.
»Was haben Sie gemacht? Was für eine Arbeit war das?«, fragte Clara so behutsam wie möglich.
Angelo hob den Kopf. Seine Augen waren rot von ungeweinten Tränen.
»Ich … ich habe ihren Hund gestohlen. Es ging ganz leicht, er lief auf der Straße herum und kam zu mir. Er war ja noch ganz jung und nicht misstrauisch. Und er kannte mich ja …« Angelo wandte den Kopf ab, und Clara konnte sehen, wie er schwer schluckte.
»Und dann?«, hakte sie nach.
Angelo griff noch einmal nach ihrer Zigarettenschachtel und zog umständlich eine heraus. Er sah Clara nicht an, während er sie anzündete und nach einem gierigen Zug weitersprach.
»Ich habe ihm den Hund verkauft. Für ein Versuchslabor. Viele von uns haben das getan.« Angelo sog den Rauch der Zigarette ein, als handelte es sich um lebensrettenden Sauerstoff. »Ein paar tausend Lire habe ich dafür bekommen. Das meiste habe ich für Zigaretten ausgegeben.«
Clara blieb stumm. Damit hatte es angefangen. Mit diesem Diebstahl, diesem ersten Verrat an dem kleinen Mädchen hatte Angelos Weg begonnen. Dieser Weg, der ihn nach München und in diese Zelle geführt hatte und ihn jetzt um sein Leben fürchten ließ. Clara spürte, wie sie selbst mit den Tränen zu kämpfen hatte: »Unternimmt den niemand etwas gegen diesen Mann?«, fragte sie und hörte, wie ihre Stimme vor Empörung und Erregung zitterte.
»Gegen die weiße Katze kann man nichts unternehmen«, erwiderte Angelo, und es klang, als müsste er einem Kind erklären, dass man den Regen draußen nicht einfach abstellen konnte.
»Niemand ist unbesiegbar.« Claras Worte hingen dünn und nichts sagend in dem kalten grünen Raum, schwebten mit dem Rauch ihrer Zigaretten zur Decke hinauf und verschwanden.
Angelo antwortete nicht. Nach einer Weile begann er weiterzuerzählen, als hätte es Claras absurde Zwischenbemerkung gar nicht gegeben. »Ich musste auch danach jeden Tag an Chiaras Haus vorübergehen. Eine Zeitlang hat sie Bricciola gesucht und nach ihm gerufen. Und sie hat geweint. Und trotzdem hat sie mir jedes Mal, wenn sie mich sah, zugewinkt. Irgendwann hatte ich genug Geld, um mir ein motorino zu kaufen, dann bin ich immer ganz schnell an ihrem Haus vorbeigefahren, bevor sie mir wieder zuwinken konnte.« Angelo stand auf und begann, die wenigen möglichen Schritte in seiner Zelle auf und ab zu gehen.
Clara betrachtete seinen eckigen Rücken, die hängenden, viel zu langen Arme und den gebeugten Nacken. Seine Haare waren in der Haft gewachsen und kringelten sich strähnig hinter seinen Ohren. Sie hatte Mitleid mit diesem großen, hilflosen Jungen und wollte ihm gerne etwas Aufmunterndes sagen, etwas Tröstliches, etwas, das sein Weltbild, seine Erfahrungen, seine Angst relativierte und ihm zeigte, dass es noch etwas anderes in dieser Welt gab als das, was er bisher gesehen hatte. Doch ihr fiel nichts ein. Mutlos stand Clara
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