Das Gesetz des Irrsinns
andeutete, vor allem mit Hinweisen, Andeutungen, Berichten über Verbindungen mit Zelebritäten seiner Zeit. Mit Goethe, allen voran mit Goethe, auch mit Beethoven, selbstverständlich mit Beethoven, mit Hoffmann, natürlich mit Hoffmann, der mit Werk und Erscheinung ohnehin die literarische Öffentlichkeit beschäftigt hielt.
Hirth konnte nachweisen, dass Begegnungen mit Hoffmann wie mit Goethe wie mit Beethoven letztlich erfunden waren. Dennoch, was Lyser an scheinbar autobiographischen Texten publizierte, es klang plausibel, vor allem in jener Zeit, in der es noch schwer war, Angaben zu überprüfen. Er wollte und sollte wahrgenommen werden als Person, die von einem Hoffmann wie von einem Goethe, sogar von einem widerborstigen Beethoven akzeptiert wurde – von Hoffmann als Famulus, von Goethe als Zeichner, von Beethoven als Musiker. Nachweisbar, dokumentierbar hingegen ist seine freundschaftliche Beziehung zu Mozarts Sohn Franz Xaver, und vor allem zu Robert Schumann – ein Kapitel für sich.
Dies ist die Ausgangssituation: Ein Autor, ein Publizist mit geringem Erfolg wertet sich auf durch Begleitgeschichten. Ob er wenigstens auf diese Weise erfolgreich war oder nicht, das ist nicht so wichtig – Lyser als Modell.
Linien, die von Lyser angelegt worden waren, die zog ich entschieden weiter. Ich koloriere nicht bloß, was Lyser konturiert hat, ich entwickle eigenständige Begleit-Storys, dies aber im Spielraum der Wahrscheinlichkeit.
Hier ist auch bereits meine Leitformulierung für den (speziell hier!) freien Umgang mit biographischen Fakten – Texte, die nicht verifizierbar biographisch sind, sie entwickeln sich im
Spielraum der Wahrscheinlichkeit
.
Über Lyser eine Biographie (oder auch nur eine biographische Skizze) zu schreiben, dazu hätte ich nicht die geringste Lust, ich müsste ständig mit ihm hadern. Hier aber: Wo Lyser mit seiner Lebens-Story frei umgegangen war, da setze ich weitere Lebens-Storys frei. Quantensprünge von Fakten zu Fiktionen.
Ein Beispiel: Es könnte durchaus zutreffen, dass er eine Zeit lang Schiffsjunge war. Hier setze ich an und lasse ihn nicht nur nach Ceylon segeln, ich inszeniere eine zweifache Zwischenlandung bei St. Helena (damals weithin üblich bei Fernfahrten!), lasse ihn auf solch einer Reise die Gelegenheit nutzen zu einer Visite beim exilierten Napoleon, sodann, bei einer weiteren Fernfahrt, zur Totenwache an dessen Feldbett.
Lyser schuf eine Realität neben seiner weithin tristen Lebensrealität. Vereinfacht: er phantasierte, fälschte, schwindelte, täuschte vor. Genau damit gewährt er mir Freiraum der Ausgestaltung, hier lässt sich aufgreifen, fortführen, weiterführen. Ich spiele aus, was er oft nur angespielt hat. Was er angelegt, entwickelt hat, das soll »getoppt« werden. Damit wird die Figur näher herangerückt an eine Gegenwart, in der Storys selbst auf dem Aktienmarkt für Umsatz sorgen.
Nun stellt sich die Frage, ob man als Leserin, als Leser über das wahre Leben des Johann Peter Lyser informiert sein muss, um abschätzen zu können, was noch im Kontext steht zu seiner Vita und was sich von ihr frei ablöst. Ich habe dazu ein Zeichen gesetzt: Lysers Behauptung, er sei im Urwald von Ceylon in einem Akt der Levitation zu Baumkronen (mit gloriosen Orchideen) hochgeschwebt. Spätestens hier dürfte signalisiert sein: Ich erzähle »con alcune licenze« (wie es damals bei einer Komposition heißen konnte). Mit der Erweiterung von Spielraum wird die Person deutlicher charakterisiert.
Noch ein Beispiel zu Lysers Methode. Es scheint zu stimmen, dass Lyser dem großen Beethoven in Wien seine Aufwartung gemacht hat. Auch ist bezeugt, dass Lyser das Bassetthorn (Altklarinette) gespielt hat, zumindest in frühen Jahren. Dass die beiden tauben Musiker jedoch gemeinsam improvisierten, con fuoco, das dürfte auch in einem erweiterten Spielraum der Wahrscheinlichkeit grenzwertig sein.
In der desolaten Schlussphase seines Lebens wurde der Spielraum auch für Fiktionen freilich immer enger, schließlich gab es dazu keine Ansätze mehr: ihm war Öffentlichkeit abhandengekommen. Es herrschte extreme Armut, dominierte Einsamkeit. Eine Strophe aus einem seiner Gedichte: »Alt, verlassen muss ich leben! / Ungeliebt und viel verkannt! / Fruchtlos blieb mein bestes Streben, / Jede, jede Hoffnung schwand.«
Übertreibend stilisiert? Lyser war wirklich arm dran! In seinen letzten Lebensjahren: totales Elend. Nach etlichen Lebensfiktionen nun einige Auszüge,
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