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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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ich sah das, nach erneutem Richtungswechsel, an den Lippenbewegungen, abschmeckend, feinschmeckend: Ho-nig-sau-ger … Ich wartete auf mit dem nächsten Stichwort: Schwarzer Hokko … Wieder formte er nach, silbengenau, silbengetreu, ich las es von seinen Lippen ab bei erneuter Begegnung in der Mitte des Salons: Schwar-zer-hok-ko … Und ließ einen bunten Wirbel, eine farbige Verwirbelung von Federwerk entstehen: Goldstirnsittich … Maskenpitpit … Immer höher der Schwierigkeitsgrad, immer größer die Herausforderung: Breitschwanzbussard … Purpurbindertäubchen … Fast hätten wir abgehoben: Levitation, Levitation, wir beide im Lotussitz schwebend, dicht aneinander vorbeigleitend, Bewegung nun ohne knarrenden Holzboden, Levitation, Levitation in der Thermik der Namen all der Tropenvögel, ich sage, ich schreibe nur noch: Purpurbrustkotinga, Pompadourkotinga …
    Rotwein in verschiedenen Valeurs gab uns Körperschwere, Erdenschwere zurück, der Holzboden wurde wieder hörbar, Schritt um Schritt. Und an Goethes weiterhin präzis nachformenden Lippenbewegungen, an seinem weiterhin sicheren Schritt konnte ich verifizieren, was man mir schriftlich mit auf den Weg gegeben hatte: Wie außerordentlich trinkfest der Olympier war. Erhobenen Hauptes, makellos artikulierend, marschierte er festen Schrittes an mir vorbei, während ich meine Trittspur erweitern musste.
    Das Trinkduell endete damit, dass ich bei einem Torkelschritt gegen Goethe stieß, die Stirn unterhalb seines Doppelkinns, und Goethe legte, absichernd und beschwichtigend, einen Arm um mich, gab mir einen Kuss auf die Stirn. So standen wir einige Minuten reglos.

    Ich, Lyser, der Maler; ich, Lyser, der Musiker; ich, Lyser, der Schriftsteller! Letzterer dürfte für Sie, werte Herren der Schillerstiftung, primär von Interesse sein. So beende ich mein Schreiben mit dem Bericht über eine meiner Kunstnovellen. Möglicherweise habe ich, impulsiv, ein wenig zu viel aus meinem bewegten Leben erzählt, und so sehe ich mich zur Ergänzung zwar nicht verpflichtet, aber doch motiviert.
    Johannes Schenk
, so lautet der Titel des Werks. Der Name wird Ihnen als Literaturkundigen, als Literaturfreunden nicht allzu viel sagen, so darf ich den Wiener Komponisten kurz vorstellen.
    Schenk war nur drei Jahre älter als Mozart, doch damit alt genug, um vom jungen Beethoven als Lehrer gewählt zu werden. Schenk ist längst verstorben, also konnte ich frei disponieren. Ich nutzte den Spielraum, machte Johannes zu
meinem
Schenk, wusste das auch zu begründen, zu verteidigen in einem der Briefe an Herzensbruder Schumann, dem ich auch diese Novelle zum Erstdruck anbot. Schenk, so schrieb ich sinngemäß (der Brief lässt sich gewiss im Hausarchiv der Familie einsehen), besagter Schenk könne mir postum nur dafür dankbar sein, dass ich seine etwas karge, ja dürftige Biographie hier und dort ein wenig anreichere; so kann das Interesse an seinem (umfangreichen) Gesamtwerk nur gefördert werden.
    Ja, Werk reihte sich an Werk! Schenk trat an die (keineswegs immer aufhorchende) Öffentlichkeit mit einem Singspiel, mit einem Harfenkonzert, mit einem Singspiel, mit einer Sinfonie, mit einem Singspiel, mit einer Kantate, mit einem Singspiel, mit einem Werk für die Kirche, mit einem Singspiel und noch einem Singspiel, einem weiteren Singspiel – schließlich waren es Stücker zwanzig. Als Komponist wollte er nicht immer nach den Sternen greifen, er hat vielfach geschaffen, was ihm und anderen ganz einfach Spaß machte. Ich darf, stellvertretend, auf den
Dorfbarbier
hinweisen, der zahlreiche Bühnen erobert hat.
    Wenn ihm vom unablässigen Notenschreiben die Hand verkrampfte, wenn sich die übermäßig beanspruchte Unterarmsehne schmerzhaft bemerkbar machte, legte er ein sorgsam gefaltetes Handtuch griffbereit, zündete eine Kerze an, um Ruhe zu finden bei ihrem gleichmäßig blakenden Licht, senkte die Schreibhand, den Unterarm in eine Schüssel mit kaltem Wasser – und schenkte mir Gehör.
    Ich musste aus meinem Leben erzählen: Wie ich Hoffmann beim Malen von Bühnenbildern half, als junger Spund; wie ich als Schiffsjunge die Wanten hochkletterte zum »Krähennest« und mich unersetzlich machte als scharfäugiger Auslug; wie ich auf Ceylon einen als überaus grausam geltenden Herrscher im Innern der Insel besuchte und, neben seinem Thron, Säcke mit ausgeweideten, luftgetrockneten Innereien besiegter Gegner registrierte; wie ich Pflanzen entdeckte, die folgerichtig nach mir benannt

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