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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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Schneetreiben, sodann bei Schneeschmelze war sein Schuhwerk kaum noch zu gebrauchen; die zänkische Witwe, bei der er unter dem Dach wohnte, räumte ihm keinen Platz ein am Ofen, das hätte er extra bezahlen müssen, doch ihm fehlte Geld, fehlte Geld; nur zuweilen konnte er einen Kanon versilbern, etwa vor einem Familienfest, doch man war in puncto Zahlung oft saumselig, ließ sich mehrfach bitten, manchmal vergeblich.
    Seine Mittel waren schließlich derart knapp, dass er sich jeweils nur ein Stück Käse und ein Brot leisten konnte, nasses, entsprechend schweres Roggenbrot, das einem auf den Darm schlägt. So musste er in immer kürzeren Abständen die vier Stockwerke hinabeilen zum Klosett im Anbau hofwärts – eine Höhle, der gestampfte Lehmboden glitschig. Die Rückkehr zur Wohnung gestaltete sich äußerst mühselig, die Glieder schwerer von Stockwerk zu Stockwerk, er musste innehalten, sich am Geländer abstützen, sich an die Wand lehnen, sich schon mal auf eine Stufe setzen, und er raffte sich wieder auf, doch Alter, Schwäche, Krankheit zwangen ihn in die Knie, er musste Stufe um Stufe hochkriechen. Am liebsten hätte ich ihn unter den mageren Schultern gepackt und rücklings die Treppe hochgeschleift, Stufe um Stufe. Doch ich bin selber oft derart geschwächt, dass ich nach der sogenannten Erleichterung die Treppe streckenweise auf allen vieren überwinden muss. So zeichnet sich ab, dass mein Ende in Altona seinem Ende in Wien doppelgängerhaft gleichen wird: ich sehe zwei Gemeindearbeiter seinen kleinen, hageren Leib in einem alten Segeltuch aus der Wohnung tragen und im Spital auf eine Pritsche abkippen.

    Mit dieser formalen Abrundung, werte Herren der Schillerstiftung, darf ich meine wohl hinreichend begründete (hier auch literarisch begleitete) Bitte um eine Ehrengabe wiederholen.

Dieser Falter ist eine Fälschung!
    Geehrte und gelehrte Herren der Royal Society! Sie haben mich, ganz im Stil Ihrer altehrwürdigen Institution, um »Annotationen« zu Charles Darwin gebeten. Sicherlich geschah dies in der Erwartung, ich könne das umstrittene, mittlerweile freilich auch vielfach gepriesene Werk aus meiner Erinnerung heraus begleiten mit ergänzenden Ausführungen zur Genese. Oder erwarten Sie eher eine (weitere) Begründung dafür, dass ich seine Hauptthese nicht akzeptieren kann auf Grund der Naturstudien, die ich nach dem halben Jahrzehnt auf HMS
Beagle
, nach den Amtsjahren in Neufundland konsequent fortgeführt habe? Ich werde hier indes nicht, wie ich das bereits im Druck dokumentierte, mit Argumenten aufwarten, ich beschränke mich vielmehr darauf, zu erzählen, und dies wahrheitsgemäß, was Darwin in späteren Jahren zu berichten und zu erörtern unterlassen hat, was wir in der gemeinsamen Kajüte jedoch ausführlich besprochen und diskutiert hatten, auf der Grundlage weithin gemeinsamer Beobachtungen.
    Ich darf hiermit den Wahlspruch Ihrer Society übernehmen: Nullius in verba, Take nobody’s word for it – nimm also auch nicht einfach nur Darwin beim Wort, geh aus von eigenen Beobachtungen, Erkenntnissen. Angesichts der nahenden Grenze meines Lebens kann ich freilich nur mit aller Knappheit, ja letztlich bloß fragmentarisch –

    [Anmerkung des Herausgebers: Ob Robert Fitz-Roy, vormals Kapitän des Dreimasters
Beagle
, den Brief nur ansatzweise entworfen oder ob Nachkommen, konfrontiert mit fortschreitendem Konsens der Naturwissenschaft, das stellenweise als heikel oder unpassend empfundene Schreiben fragmentiert haben, lässt sich kaum noch eruieren.
    Während der gesamten Weltumrundung hat Fitz-Roy (nur vier Jahre älter als Darwin) die Kapitänskajüte mit dem jungen Mediziner geteilt. Jeder andere Kapitän hätte den mitreisenden Naturforscher in dem Raum untergebracht, den sich gewöhnlich die beiden Schiffsoffiziere (jeweils im Rang eines Leutnants) teilten; in der dritten Koje zumeist der Schiffsarzt; die vierte Koje hätte denn ein mitreisender Naturforscher beziehen können – falls er nicht mit einer Hängematte über dem gemeinsamen Tisch vorliebnehmen musste.
    Soweit der seemännische Brauch, doch auf der
Beagle
war das anders: Kapitän und Forscher teilten sich die Kajüte achtern. So dürfte Robert Fitz-Roy Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gesprächen mit Charles Darwin geführt haben, an langen Abenden, an Tagen der Windstille.
    Darwin hatte Medizin in Edinburgh, Theologie in Cambridge studiert – dies mit dem Abschluss des Bakkalaureats, und so lässt sich davon

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