Das Gesetz des Irrsinns
zum Teil mit Auszügen aus Abhörprotokollen: Textsorten (wie Germanisten sagen würden), die sich eher Dokumentationen zuordnen lassen. Hier muss also abgegrenzt werden.
Dies mit der erneut aufgegriffenen Frage nach den Textrelationen zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Wiedergabe und Erfindung, zwischen Reproduktion und Invention. Erneut und erst recht also die Frage nach dem Schreibverfahren.
Anmerkungen zum historischen Kontext, der einwirkt auf den Romantext. Das Dritte Reich war, besonders in der Endphase, eine Ära grassierender, weithin dominierender Realitätsverweigerung.
Besonders deutliches Beispiel: Hitler. Bis zum Schluss weigerte er sich, Zerstörungen deutscher Städte wahrzunehmen: Fotos wurden unwirsch beiseitegeschoben; keine noch so kurze Inspektionsfahrt fand statt durch eine bombardierte Stadt, so wie Goebbels und Göring das gelegentlich unternahmen – mit Pressebegleitung, versteht sich. Fuhr Hitlers Sonderzug durch eine der zerstörten Städte, mussten im Salonwagen die Rouleaus heruntergezogen werden. Auch beim unerwarteten Anblick eines Lazarettzugs auf parallelem Gleis. Abblenden, ausblenden …!
Realität wurde nicht einmal wahrgenommen am Kartentisch im Führerhauptquartier: Längst aufgeriebene, ausgeblutete Divisionen wurden planspielartig weiter zum Einsatz gebracht, auch wenn die Wimpelchen an Stecknadeln letztlich nur noch Führungsstäbe markierten. Benzin und Munition wurden weiterhin als »Kriegsbetriebsmittel« eingeplant, wo längst schon Notstand, ja »Großnotstand« herrschte. Und so weiter.
Symbiotisch mit der Realitätsverweigerung die Realitätsverfälschung, vor allem von Goebbels mit Perfektion betrieben.
Der Zweite Weltkrieg wurde gleich mit einer Fälschung initiiert: Der von einem Spezialkommando in fremden Uniformen simulierte Überfall auf den Sender Gleiwitz, in der Presse weidlich ausgenutzt.
Berühmter Spruch: Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, von wem der Satz stammt, er hat sich selbständig gemacht, er flottiert.
Die propagandistischen (Ver-)Fälschungen führten immer deutlicher zu krassen Lügen. Kommentare dazu wurden nur noch geflüstert, hinter vorgehaltner Hand. Schon das war verdächtig in einer Zeit, in der Abhören von ausländischen Sendern und vertrauliches Weitergeben neuer Meldungen als »Rundfunkverbrechen« gebrandmarkt und geahndet wurden, und das führte vielfach zur Exekution. Wiederholt tauchten Meldungen darüber in der Presse auf, Warnzeichen setzend.
Von jenen Realitäten der Realitätsverweigerung und Realitätsverfälschung gehe ich aus, entwickle ein angemessenes Schreibverfahren. Begleitschreiben zu Sequenzen aus Abhörprotokollen werden angereichert mit Elementen des Realen: Nachweisbare Details werden anderem Kontext entnommen, werden transferiert, transplantiert. Ja, es finden Transplantationen statt von Realitätsfragmenten, Realitätsfermenten, Realitätselementen. Sie werden in Abläufe integriert, die plausibel, stringent (und so weiter) erscheinen müssen. Für dieses Verfahren liegen Stichworte bereit: Realitätssuggestion … Eindruck des Authentischen … bewusste Verwischung der Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation … Dies alles in einer Generalperspektive: vorherrschend das Gesetz des Irrsinns. Ein schlichter Vergleich: Stellschrauben werden angezogen, bis sie durchdrehen.
Ein Roman in Rollenprosa. Also kann nicht versucht werden, durch aktualisierende Floskeln Vergangenes an (jeweilige) Gegenwart heranzurücken, Rezeption erleichternd. Fremdes soll weithin fremd bleiben.
Die
sprachliche Mimikry der Rollenprosa
schützt mich als Autor vor der Verlockung oder Gefahr, mich kommentierend einzuschalten. Es wird von innen heraus, nicht von außen heran erzählt. Nur so können jene Mentalitäten zur Sprache kommen, die erkennen lassen, wieso das Gesetz des Irrsinns noch strikt befolgt wird, während es längst schon obsolet geworden ist, Selbstzerstörung freisetzend.
Die Rollenprosa setzte Sprachstudien voraus. Ich habe herumgestöbert im zehnbändigen
Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht,
herausgegeben von Percy Ernst Schramm. Frankfurt 1961 . (Einer der Mitarbeiter des Historikers war der Schriftsteller Felix Hartlaub, den ich sehr bewundere.)
Charakteristische Formulierungen fand ich vor allem für die allzu lange Phase des Zusammenbruchs (etwa nach der Parole: Wir kämpfen bis fünf nach zwölf): »Gewonnenes Gelände schrittweise dem Feinde wieder
Weitere Kostenlose Bücher