Das Gesetz des Irrsinns
erfinden, wie ich das für den Film ›Der große König‹ getan hatte.
Goebbels sah in der Figur des Nettelbeck sich selbst. Er sprach das auch so aus. Der Bürger Nettelbeck hatte als Oberhaupt der Stadt ein Bürgerheer zusammengetrommelt. In diesem Bürgerheer sah Goebbels eine Art SA . Er wollte betont wissen, dass zumindest im Fall Kolberg Nettelbeck der eigentliche Held war und nicht etwa der große Gneisenau.«
Bevor ich Joachim Nettelbeck zu Wort kommen lasse, ein Loblied: In den selben Sommermonaten 1944 , in denen Veit Harlan die Dreharbeiten zum Kolossalfilm fortsetzte, entstand ein Film, der alle Erklärungen in Frage stellt, man hätte unter unausweichlichem Zwang gehandelt, hätte nur Unterhaltungsfilme (wenn möglich mit Marika Rökk) oder richtungsweisende Historienfilme (wenn möglich mit Horst Caspar) produzieren können:
Unter den Brücken
von Helmut Käutner.
Eine potentiell rührselige, ins Reich des Kitschs hinüberführende Story von zwei Binnenschiffern, die sich in die selbe Frau verlieben, deshalb auseinandergeraten und wieder zusammenfinden in einem Happy End zu dritt. Aber, großes Aber: Mit welcher Ruhe, Geduld, Unaufdringlichkeit, Delikatesse ist alles ins Spiel gesetzt! Sequenzen, in denen nur auf Geräusche gehört wird: ein Froschquaken … ein Seilknirschen … Musik, die nicht bloß eingespielt, sondern vorgespielt wird: ›Schifferklavier‹ und Gesang, dosiert eingebracht. Brillante Dialogfolgen, vor allem in der behutsamen Annäherung des (späteren) Paares. Schnittsequenzen, die an die große Zeit des russischen Stummfilms erinnern: Aufnahmen mit verkanteter Kamera, übereinandergeblendete Bildfolgen, rhythmische Strukturen. Und nichts vom Geschrei und Gedröhn bei Harlan, nichts vom Gleichmachen und Niedermachen des Systems, ein
Gegenzeichen
wurde gesetzt: Es geht auch anders, man muss nur Mut aufbringen, Überzeugung und Überzeugungskraft. Großmogule der Anpassung, des vorauseilenden Gehorsams wurden durch diesen stillen Film in Schwarzweiß degradiert.
Das Zeichen, das Käutner setzte, konnte freilich erst ein halbes Jahrzehnt später wahrgenommen werden: Der Film, 1945 fertiggestellt, wurde 1950 in Göttingen uraufgeführt. Dazu musste keine peinliche Kotau-Sequenz herausgeschnitten werden, Käutner hatte sich auch mit diesem Spielfilm nicht desavouiert. Nach allem Kopfschütteln angesichts dominierender NS -Filmproduktionen endlich mal Aufschauen, bewundernd, nach allem Nein endlich ein Ja. Hier ist Überschwang motiviert: In finsterster Zeit eine Sternstunde deutschen Films!
Und nun, wie angekündigt: Nettelbeck. Er hat einen autobiographischen Text hinterlassen:
Des Seefahrers Joachim Nettelbeck höchst erstaunliche Lebensgeschichte, von ihm selbst erzählt
(online im »Projekt Gutenberg«).
Zu dieser Vita gehören Sklaventransporte von Afrika nach Surinam. Das spielt aber keine Rolle im Film, so bleibt es hier beim Hinweis. Notwendige Ergänzung hingegen: kritische Äußerungen Nettelbecks über das preußische Militär – das im Film idealisiert wird.
»Die entschiedene Abneigung des Bürgers gegen den Soldatenstand, die man damals überall fand, hatte aber auch ihre genugsame Rechtfertigung in der heillosen und unmenschlichen Art, womit die jungen Leute beim Exerzieren von den dazu angestellten Unteroffizieren behandelt wurden. Vor den Fenstern ihrer Eltern, auf öffentlichem Markte wurden sie von diesen rohen Menschen bei solchen Übungen mit Schieben, Stoßen und Prügeln aufs Grausamste misshandelt. Oft nur, um ihre neue Autorität fühlen zu lassen, oft aber auch wohl in der eigennützigen Absicht, von den Angehörigen Gaben und Geschenke zu erpressen. Es war ein kläglicher Anblick, wenn die Mütter, die bei solchen Auftritten in Haufen daneben standen, schrien und baten, um dann von den Barbaren rau und unsanft abgeführt zu werden. Irgendwelche Klagen bei den Obern wurden abgewiesen. Sie dachten wie ihre Untergebenen und sahen mit kalter Geringschätzung auf alles herab, was nicht den blauen Rock ihres Königs trug.«
Begleiterscheinungen. Kontext … Und damit zum Krieg, zur Belagerung. »Kolberg war damals ein Städtchen von noch nicht sechstausend Seelen. Es liegt auf dem rechten Ufer der Persante, einem kleinen Flusse, welcher nur kurz vor der Ostsee einige hundert Schritte hinauf schiffbar ist.
Der Platz gewinnt aber eine bedeutende Stärke durch einen breiten morastigen Wiesengrund, welcher sich ununterbrochen von Süden nach Nordosten dicht
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