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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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sich allerdings nicht (mehr) in der Lage, einen umfassenden Bericht zu erstatten, er ging lediglich einem Aspekt gemeinsamer Erkundungen nach, bevor er mit einem Rasiermesser seinem Leben ein Ende setzte.
    Offenbar hat ein späterer Leser des Brief-Faszikels die ohnehin fragmentarische Darstellung weiter reduziert. Wie zum Ausgleich wurden Erweiterungen eingefügt aus einem Reisebericht – dieses oder eines anderen Kapitäns?]

    »Während der Nacht waren 25 fliegende Fische aufs Verdeck gefallen; zum Mittag erschienen sie als äußerst wohlschmeckende und seltene Speise auf unserer Tafel. Diese Fische verirrten sich öfter auf Schiffe, die nicht höher aus dem Wasser herausragen als deren Flugbögen auf der Flucht vor Feinden; bisweilen prallen sie in vollem Schwung gegen den Schiffsrumpf und fallen betäubt ins Wasser zurück.«

    … begleitete ihn ja auch bei diversen Landexkursionen, beginnend im Hinterland von Rio de Janeiro. Mein seemännisch scharfes Auge war dabei oft hilfreich für ihn; dieses und jenes Detail, das sich später als relevant herausstellte, wäre ihm sonst entgangen. Kurzum, ich kann mich rühmen, manches entdeckt zu haben, das er sonst übersehen hätte. Diese Entdeckungen haben, so sehe ich das über die Zeitdistanz hinweg, eine gewisse Gemeinsamkeit. Sind damit Vorspiele zum großen Kajütengespräch über zwei auf der Tischplatte liegende Schmetterlinge, die sich in jedem Detail glichen und die doch nicht aus der gleichen Familie stammten …!
    Alles fing an mit einem Stein wahrhaftig des Anstoßes – jedoch nicht zur Empörung, sondern zur Reflexion. Ein Stein, der in Größe, Form, Farbe aussah wie andere Steine der unmittelbaren Umgebung. Ich hätte ihn glatt übersehen, wäre ich nicht mit der Schuhspitze gegen ihn gestoßen und er hätte weich nachgegeben. Also organische, nicht mineralogische Substanz! Ein Lebewesen, das als Stein getarnt war, und dies perfekt – sogar Steinmaserung war originalgetreu wiedergegeben. Wir standen, wortwörtlich, vor einem Rätsel. Darwin enthielt sich jedes Kommentars, löste stumm den Stein, der kein Stein war, vom Boden, wir nahmen das Fundstück mit an Bord. Und sprachen vorerst nicht weiter von diesem Schein-Stein.
    [A.d.Hrsg.: Es handelte sich offenbar um ein Exemplar der Lithops, der Lebenden Steine, eines Dickblattgewächses.]

    »Kurz vor Sonnenuntergang bestraften wir einen Pelikan für seine Dreistigkeit, uns so nah über die Köpfe zu fliegen, dass wir ihn mit Händen hätten greifen können; ein Flintenschuss warf ihn ins Meer, und ich schickte, trotz der hohen Wellen, ein Boot aus, um die seltene Beute für unser Naturalienkabinett einzuholen.«

    Im Hinterland von Montevideo: das Ästchen, das kein Ästchen war. Auch hier meine letztlich zufällige Entdeckung, die Charles die Augen öffnete – und doch sah er damals nicht klar.
    Zufällig streifte ich an einem Baum ein Ästchen, das weich nachgab. Ein von einem Ast hochragendes Ästchen. Verharren, genaues Betrachten des rätselhaften Phänomens »in situ«, wie der Mediziner und Theologe sagte. Wir sahen uns erneut konfrontiert mit einem Versteckspiel der Natur. Denn was sich hier zeigte, war eine Raupe, die einen kleinen Ast nachbildete, dabei exakt die Rindenfarbe des Baums angenommen hatte.
    Nicht nur das: bis in allerkleinste Details war die Raupe den benachbarten Ästen und Ästchen nachgebildet – Imitation in einer Perfektion, die unsere intensive und extensive Betrachtung mit der Lupe reich belohnte. Alle für eine Rinde typischen Unregelmäßigkeiten (etwa Sprosspunkte) waren präzis nachgeformt. Und dieser ganze Aufwand für den raschen, ja flüchtigen Blick eines Fressfeindes? Dem genügt doch wohl der Eindruck: Farbe eines Astes, Form eines Astes, also weiter! Doch in spielerischem Überfluss sind Details nachgestaltend ausgeprägt, die längst nicht mehr zweckdienlich sind. Also: wieso und für wen diese minutiöse Nachahmung? Die Raupe kann sich nicht selbst mustern und bewundern in ihrer perfekten Imitation anderer Ästchen am gleichen Ast.
    Weiter gefragt: Wie konnte es der Raupe überhaupt gelingen, die Vorlage so genau zu studieren und sie sich – wie auch immer – zu eigen zu machen? Starr wie ein Ästchen, abgeschrägt wie ein Ästchen, mit lupengenauer Nachahmung der Rinde eines Ästchens? Woher wusste (wusste?) die Raupe, wie ein Ästchen von einem Ast wegragt, woher wusste (wusste?) sie, dass zur Rinde eines Ästchens auch die kleinen Auswulstungen

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