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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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gehören, jene Wachstums-Augen? Die Raupe, deren Blick eigentlich nur auf fressbares Blattgrün gerichtet, ja fixiert ist, wieso schaut sie einem Ästchen, um das sich kein Vogel kümmert, porenscharf jedes Detail ab und setzt es um in die eigene Erscheinungsform? Ja, es werden nicht nur Kontur und Farbe übernommen, auch Verhaltensmuster: Starrheit schräg aufwärts vom tragenden Ast. Abgeschaut und umgesetzt?
    Da frage ich, mit britischer Hartnäckigkeit: Ja wie denn bitte schön? Falls ich mal von mir ausgehen darf: Als Kapitän nahm ich eine recht gute Position ein in der Hierarchie unserer Seefahrt oder Marine, kommt hinzu mein zeitweiliges Amt als Gouverneur (wenn auch nur von Neufundland): Wenn ich nun als Person mit einiger Autorität dem hiesigen Pfarrer die üppigen Augenbrauen abgucken wollte, die seinem Blick scheinbar größere Intensität verleihen, die kritische Fragen mit kleinem Brauenheben und Brauensenken abzuwehren vermögen – wie lange müsste ich auf diese faszinierend borstigen Brauen starren, ehe sie sich, wie auch immer, auf mich übertragen? Ich wage das kaum auszudenken. Was mir als Person mit zeitweiliger Befehlsgewalt nicht gelingen will – wie soll da ein halb blindes oder fast völlig blindes Insekt einer Naturform im Revier hellsichtig abgucken, was die eigene Zukunft oder zumindest die Zukunft von Nachkommen schützt? Und dies mit einer Genauigkeit bis ins kleinste, bloß mit der Lupe erkennbare Detail? Alles nur Zufall? Soviel Zufall kann doch gar nicht sein!
    Falls mich die Erinnerung nicht täuscht, werte Herren, hatte ich diese Frage bereits am Arbeitstisch meiner Kajüte gestellt, nach genauer Inspektion der Raupe, die ein Ästchen darstellte. Sie werden erfahren wollen, wie Darwin auf meine Fragen reagierte. Er schwieg. Ihm blieb auch nichts anderes übrig.
    Denn es kam bald darauf hinzu eine Hornisse, die keine Hornisse war! Ein Indio hatte sie zwischen eingehöhlten Händen mitgebracht. Er öffnete die Handmulde zu einem Sichtspalt, der Entweichen nicht erlaubte. Wir hörten das für eine Hornisse charakteristisch tiefe Summgeräusch. Doch sie stach nicht. Zwar schien sie mit dem Hinterleib Stechbewegung zu imitieren, doch jegliche –

    [Anm.d.Hrsg.: Wieder eine Lücke in der Handschrift. In der Selbstverpflichtung zu textbegleitenden Ergänzungen habe ich mich über das Phänomen der Mimikry informiert, und so kann ich hier einflechten, dass es sich bei jener Imitation oder Kopie um einen Schmetterling handelt, einen Hornissen-Glasflügler. Er gleicht einer Hornisse in Größe, Form und Verhalten, verschafft sich damit Schutz. Vor allem die schwarzen und gelben Querstreifen des Hinterleibs scheinen »potentielle Beutegreifer« abzuschrecken. Ein Schmetterling, der als Hornisse registriert, akzeptiert, respektiert wird!]

    Und wie ist das mit dem Seepferdchen und den Korallenästen? Ein Perlentaucher in der Südsee hatte beides mit einem Kescher gefasst, überbrachte den Doppelfund; seine Hoffnung auf ein Gegengeschenk wurde von Charles prompt erfüllt.
    Der exzeptionelle Fund wurde auf der Kartentischplatte sogleich untersucht, und siehe da: Das Seepferdchen hatte genauestens die Farbe der Korallen angenommen, zwischen denen es offenbar gelebt hatte, es zeigte sogar die gleichen Farbwarzen – so notiere ich auf Widerruf, unter Wissenschaftlern heißen diese Pusteln wahrscheinlich anders, doch hier schreibt ein Kapitän. Wir haben alle Details mit der Lupe betrachtet, die Farbpusteln, die winzigen Warzen an den Korallen wie beim Seepferdchen. Das hatte solche roten Farbwarzen auch im Gesicht.
    Hier stellte sich die Frage von selbst: Wie übernimmt das Seepferdchen das Korallenmuster? Umgekehrt wird es wohl kaum der Fall sein, Korallen können nichts abgucken, aber wie kann das Seepferdchen die gleiche Farbe, die gleichen Formen übernehmen? Bemalt es mit genauestens nachgemischter Farbe sich selbst? Schaut sich wiederholt so genau wie möglich die Vorlage an, adaptiert selbst feinste Nuancen? Drückt präzis imitierte Korallenwarzen aus sich heraus?
    Warum
das Seepferdchen das macht, ist klar. Aber
wie
, aber
wie
?! Seepferdchen dieser Familie probieren im Verlauf von Äonen doch nicht Tausende und Abertausende von Formen und Farben aus, bis sich schließlich, rein zufällig, dennoch entwicklungsgemäß, die Form und die Farbe eingestellt oder entwickelt hat, die das Überleben zwischen speziellem Korallengewächs möglich macht, trotz all der beutegierigen Fische

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