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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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ringsum. Wie, lieber Charles, wie, wie, wie gelingt die lupengenaue Übertragung in einem Tierreich, das ohne Lupen arbeitet? Hat sich da jemand mit einer ganz großen Lupe ein Vergnügen bereitet? Hat dabei solchen Spaß, dass solche Spielformen in Variationen wiederholt werden? Und eine Raupe (für Vögel seit jeher eine besonders beliebte und nahrhafte Speise) nimmt in langer Entwicklung die Form von Vogelkot an – um nicht selbst als Vogelkot ausgeschieden zu werden? Und ein Falter nimmt in langer Entwicklung das Aussehen eines Blattes an, sogar das eines bereits angenagten Blattes? Wie, wie, wie kommt das alles zustande? Springen Farbmuster einfach so über? Schneiden sich, in Scherenschnitt-Technik, Konturen prägnant nach? Sich selbst führende Scheren? Sich selbst konturierende Konturen? Und das alles, wie zufällig, deckungsgleich? Also doch nicht zufällig? Hilf mir aus der Klemme, Charles, gib ein Zeichen, und sei es verschlüsselt! Ja, ein verschlüsselter Text, der einem Klartext gleicht, Buchstabe für Buchstabe!
    Doch Charles hat nichts dazu gesagt, in unserer Kajüte. Zumindest hätte er später darüber schreiben können. Doch er schwieg sich aus.

    »In der Nacht brach ein Orkan aus; die ohnehin hochlaufenden Wellen türmten sich zu ungeheuren Massen auf, wie ich das noch nie gesehen hatte. Gleich nach Mitternacht nahm die Wut des Orkans in einem solchen Grade zu, dass er die Spitzen der Wellen vom Meere trennte und sie als Regenschwaden über die Wasserfläche fegte. Wer so ein Schauspiel nicht gesehen hat, kann sich kein Bild davon machen; es ist, als wolle eine ungeheure Revolution den gesamten Erdball vernichten.
    Ich hatte den Leutnant abgelöst; außer mir waren noch vier Mann auf Deck, von denen zwei das Steuer hielten; die übrige Mannschaft hatte ich sicherheitshalber hinuntergeschickt. Um 4 Uhr morgens staunte ich noch die Höhe einer brausenden Welle an, als sie plötzlich Richtung auf uns nahm und mich im selben Augenblick besinnungslos niederwarf. Der heftige Schmerz, den ich beim Erwachen fühlte, ward übertäubt durch den traurigen Anblick des Schiffs. Zuerst fiel mir der zerbrochene Bugspriet auf; die Welle hatte mit einem einzigen Stoß den Balken von zwei Fuß Durchmesser zersplittert.«

    Ich sehe mich genötigt zu einer fast schon überfälligen Anmerkung zum Status des Mitreisenden.
    Die (zweite) Expeditionsfahrt der
Beagle
: kein Forschungsunternehmen, bei dem (etwa zur Sicherung der Finanzierung) auch Vermessungen von Küstenverläufen Südamerikas vorgenommen wurden, es war vielmehr umgekehrt: Das Kartographieren besaß Priorität bei diesem Unternehmen, der junge Naturforscher konnte gleichsam als Gast teilnehmen.
    Dies auf meinen Wunsch. Ich wollte nicht das Schicksal des vormaligen Kapitäns der
Beagle
nachvollziehen, der sich nach jahrelanger, letztlich eintöniger Vermessungsarbeit an fremden Küsten das Leben nahm: er hatte sich an Bord im Lauf der Jahre mehr und mehr isoliert gefühlt – in der Mannschaft vorwiegend schlichte Gemüter, die eher auf Anweisungen warten als Gespräche suchen. So habe ich zur geistigen Anregung den etwas Jüngeren nicht nur an Bord, sondern in meine Kajüte aufgenommen, in der Hoffnung, ja Erwartung, es würden sich belebende und erweiternde Gespräche entwickeln. Was sich freilich als schwierig erwies, solange Darwin unter der Seekrankheit litt, und das geschah ebenso häufig wie heftig – zuweilen musste er sich rasch auf dem Kartentisch ausstrecken. Luft und Wasser führten da einen überaus heftigen Dialog, und das Kajütengespräch verstummte. Sobald wir freilich wieder unter kommoden Konditionen dahinsegelten oder solange wir vor Anker lagen, setzte sich der Diskurs fort.

    [Anm.d.Hrsg.: Robert Fitz-Roy hatte ein etwas naives Verfahren entwickelt, Nachahmer im Reich der Fauna sprechen zu lassen. Eine Raupe, die als Einzelstück wie als Gattung überleben will, präsentiert sich mit folgender Sequenz in einer Ich-Form, die bei einem Schreiben an die »Royal Society of London for Improving Natural Knowledge« leicht verfehlt wirkt.
    Darauf angesprochen, hätte sich Fitz-Roy etwa so rechtfertigen können: Seine eigentliche Sprache sei nun mal die eines Seemanns, nicht die eines Naturforschers.]

    … ringsum werden wir von Vögeln geschnappt und verschluckt, sagt sich eine Schwebfliege, doch die Wespen dort drüben, die bleiben verschont, und das schon lange, wahrscheinlich schon immer. Haben eine ähnliche Größe, das ja, sehen

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