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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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Hummeln angeflogen – attackierend? Nein, es sah nicht aus wie Anflug zum Nektar-Saugen, es wirkte fast gewalttätig. Den Vorgang konnte ich mir, mal wieder hinzugezogen, ebenso wenig wie Charles erklären. Bis wir uns die »attackierten« Orchideenblüten genauer anschauten, speziell die auffällig geformten und gefärbten Auswüchse: überdeutlich aus der Blüte herausgeschobene Objekte von nicht mehr blütenhaft wirkender Konsistenz.
    Am Kajütentisch mit der wechselseitig benutzten Lupe betrachtet, schienen uns diese Auswulstungen gleichsam anzuspringen! Ich war der Erste, der die Vermutung äußerte: Sieht aus wie der Hinterleib eines Insekts, gleichsam einladend.
    Wozu da eingeladen wurde, das nahmen wir staunend, fast erschrocken wahr mit dem Teleskop: Eine Wespe flog einen präzis nachgeformten Hinterleib an, presste sich auf ihn, umfing ihn an den Flanken, schien Begattungsbewegungen zu vollführen.
    Daraufhin schauten wir uns die ins Schiff mitgebrachten Orchideen noch genauer an, und es ließ sich nicht mehr drum herumreden: Die Hinterleiber einer Fliege, einer Wespe, einer Hummel waren derart genau nachgeahmt, dass die Pflanze im einen Fall von einer Fliege, bei der anderen Ausformung von einer Wespe, in dritter Ausprägung von einer Hummel angeflogen, ja, fast möchte ich schreiben: besprungen wurde. Eindeutig hier die Auswölbung eines Fliegen-, dort eines Wespen-, drüben eines Hummel-Hinterteils, breit genug jeweils für Fliege, Wespe oder Hummel. Und diese, ich wage das Wort: Attrappen nicht glatt, sondern mit feinen Härchen besetzt, genau wie die Härchen an den – zum Vergleich – vom Schiffsjungen weisungsgemäß eingefangenen Fliegen, Wespen, Hummeln.
    Ich muss gestehen, werte Herren, dass mir bei der Inspektion mit der Lupe die präzis nachgeahmten, zur Begattung scheinbar einladenden Blütenauswüchse fast unflätig erschienen. Natürlich fragte ich mich, woher die jeweilige Orchideenblüte so genau »weiß«, wie das Hinterteil einer Fliegen- oder Wespen- oder Hummelart im Revier beschaffen sein muss, bis hin zum samtartigen Haarbesatz des vorgestülpten Hinterteils.
    Was wir nicht wahrnehmen, jedoch annehmen konnten: Zusätzlich zum optischen Lockangebot werden auch Gerüche nachgeahmt, die jeweils Fliegen hier, Wespen dort, Hummeln drüben anlocken und erregen, vielleicht sogar noch intensiver als bei echten Fliegen, Wespen, Hummeln. Und warum das alles? Das jeweils zum unübersehbar herausgestreckten Hinterteil passende Insekt musste, muss wahrscheinlich –
    [Anm.d.Hrsg.: Der abgebrochene Satz lässt sich leicht ergänzen, schon mit dem Titel einer späten Untersuchung Darwins: »Die verschiedenen Einrichtungen, durch welche Orchideen von Insekten befruchtet werden.«
    Die Gesamt-»Einrichtung« hier als Sexfalle, zur Paarung auch durch speziell abgestimmte Duftnoten stimulierend. Das angelockte Insekt als Bestäuber; es löst Pollen ab, die es nach der »Pseudokopulation« mitnimmt, somit zur Vermehrung, Verbreitung beitragend. Die bis in kleinste Details perfekt nachgeahmten Hinterleibs-Attrappen der
Ophrys
-Orchideen, in ihrer jeweiligen Ausformung als Fliegen-Ragwurz, Wespen-Ragwurz, Hummel-Ragwurz.]

    … irritierende Beobachtungen am Stein, der kein Stein, am Ästchen, das kein Ästchen war, an der Hornisse, die nicht stechen konnte, an der Raupe Vogelkot, am Schmetterling als angebissnem Blatt, am Falter mit dem einen Kopf und dem anderen Gesicht, an Orchideenblüten mit Insekten-Hinterleibern: nach all diesen Beobachtungen die Stunde der großen Fragen.
    Ich habe noch genau vor Augen, was Charles und ich auf dem Kartentisch mit besonderer Intensität betrachtet, ja inspiziert hatten: zwei fast völlig identische Schmetterlinge, die jedoch aus zwei verschiedenen Familien stammten, wie sich an eher verborgenen Details nachweisen ließ. Ich habe bisher nicht die von Darwin notierten fachspezifischen Bezeichnungen übernommen, will, als alter Seebär, der ehrwürdigen Society nicht Wissenschaftlichkeit vortäuschen (was Sie verstimmen könnte), viel lieber würde ich Ihnen farbechte Bilder von Vorbild und Nachahmer vorlegen, doch ich darf mich mit Andeutungen begnügen: Gelbbraune Vorderflügel mit schwarzer Zeichnung … dünne Fühler … blauschwarz die Hinterflügel, orangefarben umrandet … transparente, von Geäder eingefasste Flügelzonen … schwarze Ausleger mit tropfenförmigem Abschluss.
    [Anm.d.Hrsg.: Offenbar eine
Atrophanura coon
als Vorbild, eine
Papilio memnon
als

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