Das Gesetz des Irrsinns
weiten, verschlungenen Weg hinter sich. Ich muss es hier bei Andeutungen belassen – Ihr Assistenten-Duo hat (auch) mir eingeschärft, dass Ablieferungstermin und Umfang der Beiträge verbindlich vorgegeben sind.
Nach dem tödlichen Unfall des sportiven Olsen hielt seine Witwe bis auf weiteres den Daumen auf dem Nachlass. Dies aus zwei Gründen. Der erste war offenbar emotional, es wurde Rache geübt – der Hintergrund (cherchez la femme) muss hier nicht weiter erhellt werden.
Der zweite Grund: Der Nachlass ist ebenso umfangreich wie disparat. Im Klartext: Olsen hat eindeutig zu viel aufbewahrt! Zu den etwa 130 Notizbüchern (zumeist mit tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, mit Entwürfen, Skizzen, Plänen) kamen im Übermaß: Durchschriften und Kopien dienstlicher Schreiben, Mietverträge, ärztliche Atteste, Zeugnisse, Vereinsmitgliedsausweise, Lotterielose, Hotelrechnungen. Ein gleichsam in sich selbst erstickender Nachlass.
Die notorisch schwierige Witwe als erste Verwalterin des Nachlasses entwickelte keinerlei Initiative zu Auswertung und Bearbeitung des Konvoluts, die Kartons blieben geschlossen. Es kam das Dritte Reich, es kam der Krieg. Die Witwe überlebte, wenn auch unter reduzierten Konditionen. In der französischen Besatzungszone hausend, übergab sie den Nachlass einem Exécuteur testamentaire. Der nahm seine Aufgabe ernst und trennte erst einmal den wissenschaftlichen Fundus vom Privatbesitz – der wurde in einer Garage eingelagert. 1951 verschied der Exécuteur. Er hatte den wissenschaftlich und historisch relevanten Teil des Nachlasses gerade noch rechtzeitig einem Kollegen anvertraut, der am Marshall College in West Virginia lehrte; der deponierte die Unterlagen in der Special Collections Library der Universitätsbibliothek, begann mit Grobsortierung, dann Feinsortierung. Dies wurde jedoch zunehmend erschwert durch langwierige Erkrankung. Er machte sich keine Illusionen über die weitere Entwicklung und nutzte einen privaten »Draht«, um dem Deutschen Literaturarchiv den Nachlass anzubieten. In Marbach hatte man allerdings Bedenken gegen den Erwerb, die ethnolinguistische Untersuchung der Inuit-Sprache passte nicht zum Sammelschwerpunkt des Archivs. So gelangte, auf weiterem Umweg, der Nachlass an unser Institut. Ich sehe mich nun in der glücklichen Lage, erste Einblicke in das Kompendium vermitteln zu können. Und wem würde ich diese Proben lieber vorlegen als Ihnen, geschätzter Kollege?
Genug der Intrada! Nehmen wir Kurs auf Grönland, genauer: auf die sehr dünn, die fast gar nicht besiedelte Ostküste und hier auf die Insel, auf der hochspezifisch ostgrönländische Sprachmuster konserviert blieben.
Die Kuhn-Insel (etwa 10 Kilometer breit, 30 Kilometer lang) liegt in einem schwer zugänglichen Gebiet: in der Bucht zwischen der Halbinsel Hochstetter Forland (nördlich) und dem Wollaston Forland (südlich); die Nordspitze der Insel wird durchschnitten vom 75 . Grad nördlicher Breite, die Ostküste vom 20 . Grad westlicher Länge. Diese Insel liegt in einer Küstenregion, die auf mehr als 2000 Kilometern letztlich unbesiedelt ist. Zudem befindet sie sich heute in der Schutzzone des Nationalparks; das Gebiet darf nur mit einer besonderen Genehmigung der grönländischen Administration bereist werden; solche Ausnahmeregelungen gelten nur für Wissenschaftler (und für Prospektoren auf der Suche nach Erdöl).
Das Küstengebiet im Bereich des 75 . Grades nördlicher Breite ist vor allem durch Eis isoliert. Im Westen das Inlandeis; im Osten die Eisbarriere des Packeisgürtels; östlich davon das »Landwasser«, im Sommer schiffbar in einer Breite von einigen Seemeilen; östlich davon wiederum der Treibeisgürtel des Nordpolarstroms: Eisschollen und Eisfelder, auch Eisberge driften ständig südwärts. Dieser bis zu vierzig Kilometer breite Strom von »Großeis« macht auch im Sommer eine Annäherung an die Insel äußerst schwierig; bereits ab August kann die Eisbarriere vor der Küste undurchdringlich werden.
Kurz noch zur Geschichte der Region. Im Jahre 1923 nahm der englische Expeditionsleiter Clavering auf einer (später nach ihm benannten) Insel (nur wenige Kilometer südlich der Kuhn-Insel) Kontakt auf mit einer kleinen Gruppe von »Eskimos«; sie zogen sich allerdings unauffindbar zurück, nachdem Clavering das Funktionieren eines Gewehrs demonstriert hatte.
Auf der benachbarten Insel (benannt nach seinem Mitreisenden, General Sabine) wurden verlassene Winterbauten entdeckt, aber
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