Das Gesetz des Irrsinns
sie dann aber weithin sich selbst überließ über Zehntausende, Hunderttausende, womöglich Millionen von Jahren hinweg, die allmählichen Veränderungen gelassen beobachtend, zuweilen aber die Lust verspürend, einzugreifen, das scheinbar Selbstverständliche in die Schwebe zu bringen in überraschenden Spielformen …
Das flüsterte Darwin aber nur. Nein, es war eher ein Wispern – als fürchte er, die Mannschaft könne ihn hören. Und das Wispern sank ab zu einem fast verlöschenden Hauchen –
»Gleich nach Sonnenuntergang füllt sich hier die Luft mit einer unzähligen Menge leuchtender Käfer, die wie feurige Punkte in der Luft glänzen; auch fangen die großen Heuschrecken schon an zu zirpen, und Frösche in der Größe von Schweinigeln kommen aus ihren Schlupfwinkeln hervor, bellen wie Hunde von mittlerer Größe.«
… was ich aus dem Flüstern, Wispern, Hauchen des jungen Mediziners und Theologen heraushörte, ich kann, ich darf, ich muss es artikulieren: Ja, Gott lässt der Entwicklung der Lebewesen freien Lauf, beobachtet sie mit unendlicher, mit göttlicher Geduld, lässt die Natur gewähren. Ein Jahrtausend ist für die Natur bloß ein Wimpernschlag, mit hunderttausend Jahren rechnet sie schon eher, eine Million schüchtert sie nicht ein, eine Lebensform geht aus der anderen hervor, wächst, entwickelt sich weiter, mal sehn, wohin das führt. Nur zuweilen bringt Er sich durch Eingriffe in Erinnerung, mit Formen überraschend, die aus der Entwicklung heraus nicht zu erklären sind.
Und der Zufall? Auch nicht in Millionen von Jahren lassen sich Formen und Farben so zusammenwürfeln, dass schließlich exakte Kopien von Lebewesen entstehen. Also der »Fälscher«! Und der setzt Glanzlichter auf, setzt Zeichen, die Seine Existenz –
doch ich glaube zu spüren, wie Charles mir die Hand auf die Schreibhand legt, lautlos mahnend: Halt ein! Du gehst zu weit! Eine Hand, die mehr und mehr an Gewicht gewann, mit allem, was sie schrieb – keine lähmende Wirkung, das nun doch nicht, hier muss ich als Kapitän meine Souveränität betonen, aber ein –
»Auf der Rückfahrt ereignete sich eine weitere Merkwürdigkeit: Wir stießen beim Segeln auf einen schlafenden Walfisch; das Schiff wurde so heftig erschüttert, dass ich, in der Kajüte im Bett liegend, auf eine Untiefe geraten zu sein glaubte. Der unsanft geweckte Fisch hatte im ersten Schreck einen ungeheuren Satz gemacht und war dann zum Grund hinabgefahren.«
… Wunder der präzisen Schmetterlingsfälschung wurde noch übertroffen, noch überboten! Immerhin, ein Schmetterling, ein Falter hat Augen im Kopf, und wenn er scharf genug hinschaut, kann er vergleichen. Wie aber, wenn eine Blüte ohne Augen klarsichtig einen Schmetterling imitiert, kopiert?
Ja, wir haben das gesehen: Eine Blüte, die in einem der tropischen Wälder hoch droben auf Bäumen wächst, auf einem fast anderthalb Meter langen elastischen Stängel über die Baumkrone hinausragend, die Blüte von Wind bewegt, eine Blüte, die in Form und Farbe das Weibchen eines bestimmten Schmetterlings nachahmt, so genau, so farbecht, dass sie von einem männlichen Schmetterling gleichen Aussehens angeflogen wurde, mit Schwung. Wir vermuteten erst, der Schmetterling attackiere die sich wiegende Schmetterlingsblüte, doch es war ein Paarungsversuch mit falschem Partner. Und wir fragten uns damals, ich frage mich noch heute: Wo, sehr geehrte Herren, wo, bitte schön, hat eine Blüte ihre Augen, um alle Schmetterlingsdetails wahrzunehmen, die sodann adaptiert werden? Manchmal sogar mit Augenflecken auf Blütenblättern? Ich stelle die Frage, auf die Darwin keine Antwort fand: Wie kann eine blinde Blüte Augenpunkte präzis nachahmend entwickeln?
Vielleicht können Sie mir, geehrte Herren der Royal Society, zu einer (überzeugenden) Antwort verhelfen. Dafür wäre Ihnen zu Dank verpflichtet
Robert Fitz-Roy, Darwins Kapitän.
Und der Rabe nahm den Fellsack
Verehrter Jubilar, lieber Alexander Hentrich! Dass ich mich nicht lediglich in die Tabula gratulatoria eintrage, sondern diesen Beitrag zur Festschrift leiste, dürfte Sie kaum überraschen. Wie ich seinerzeit am Rande unseres achten Kongresses erwähnte, ist mir der Nachlass des 1931 verstorbenen Ethnologen Niels Peter Olsen anvertraut worden mit der Langzeitperspektive einer kommentierten Edition.
Hier stellt sich gleich die Frage: Warum wurde mir diese Aufgabe erst so viele Jahre nach Olsens Tod anvertraut? Nun, sein Nachlass hat einen
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