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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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Nachahmer. Zahlreiche weitere Beispiele perfekter Mimikry! In Afrika etwa:
Acraea aleiope f. aurivillii
und
Pseudacraea kuenowi
. In Südamerika:
Melinaea ethra
und
Dismorphia astynome.
]
    Ich fragte mich damals, frage mich heute noch, reiche die Frage weiter an Sie, geehrte und gelehrte Herren der Royal Society: Wie kann es nur möglich sein, dass ein Lebewesen ein anderes Lebewesen bis in allerkleinste Details nachahmt? Der imitierende Schmetterling kann sich doch nicht selbst auf den Flügelrücken schauen und ihn vergleichen mit dem Flügelrücken der Vorlage, präzis bis in jeden Farbschlenker. Und die Flügelmuster zeichnen sich nicht blindlings von selbst nach! Oder werden der Vorlage wortwörtlich: abgeguckt und sodann, wie mit einer Laterna magica, auf den eigenen Rücken projiziert, konturgenau und farbecht? Da muss doch irgendwo der vergleichende Blick sein, der sich an dieser Feinarbeit der Übereinstimmungen erfreut. Oder: solche Übereinstimmungen sind doch wohl geschaffen worden, mit geradezu künstlerischer Präzision, um Freude im Vergleich zu wecken. Oder?
    Ich sehe mich gezwungen, ja genötigt, hier noch einmal anzusetzen. Da ist ein Schmetterling, der registrieren muss, wie Artgenossen von Vögeln weggeschnappt werden. Daraufhin sagt er sich: Wenn es mir nicht auch so ergehen soll, wenn nicht letztlich wir alle weggeschnappt, aufgefressen werden sollen, dann müssen wir so aussehen, müssen uns so verhalten wie dieser Falter im Revier, den Vögel sichtlich meiden. Das muss an der Farbe, an der Flügelzeichnung liegen, also schauen wir uns das alles mal genauer an, müsste sich eigentlich übernehmen lassen, als Schutztarnung. Da sehe ich denn folgende Farben in folgenden Formen, und die übertrage ich detailgetreu und farbecht auf meine Flügel; nur so kann ich, nur so kann meinesgleichen überleben – selbst wenn die Übertragung ein paar Generationen dauert, was bedeutet das schon.
    Und der genießbare Schmetterling, der den anderen, offensichtlich ungenießbaren Schmetterling eigentlich nicht genau beobachten, schon gar nicht rezipierend betrachten kann, der überträgt nun in perfekter Kopie die Vorlage auf den eigenen Rücken, den er nie zu sehen bekommt, nicht einmal ansatzweise, es sei denn, der Falter hätte ausfahrbare Stielaugen, die sich nach hinten drehen und so den Flügelrücken überblicken könnten, woraufhin Nachbesserung möglich wäre: Noch genauere Farbabstimmung, noch präzisere Kopie der Flügelzeichnung, ja, und hier der eher zufällig wirkende Farbpunkt, dieser kleine Glanzpunkt muss gleichfalls übernommen, gleichfalls nachgeformt werden, dann erst ist die Imitation perfekt.

    [Anm.d.Hrsg.: Hier bricht der – unzulässig anthropomorphe – Text nicht ab, hier unterbreche ich die Ausführungen mit einem Statement des Lepidopterologen und Schriftstellers Vladimir Nabokov: »›Natürliche Auslese‹ im Darwin’schen Sinn konnte die wundersame Übereinstimmung von imitiertem Aussehen und imitiertem Verhalten nicht erklären, noch konnte man sich auf die Theorie des ›Kampfs ums Dasein‹ berufen, wenn eine Schutzmaßnahme bis zu einem Grad der Feinheit, der Extravaganz, der Aufwendigkeit getrieben wird, der das Unterscheidungsvermögen des Fressfeindes bei weitem überforderte. In der Natur entdeckte ich zweckfreie Wonnen, die ich in der Kunst suchte. Beide waren eine Form der Magie, beide waren ein Spiel intrikater Bezauberung und Täuschung.«]

    … und Darwin, nach langen Minuten wortlosen, sprachlosen, zugleich reglosen Betrachtens, er deutete auf den zweiten Schmetterling, sagte dann, mit ungewohnt heiser klingender Stimme: Strenggenommen, genaugenommen, ist der hier eine Fälschung. Und gleich noch einmal, mit größerer Bestimmheit: Dieser Falter ist eine
Fälschung
!
    Dann, nach mindestens eine Seemeile währendem Schweigen: Kann ein Lebewesen sich selber fälschen? Eine Fälschung setzt genaue Beobachtung voraus, ständigen Vergleich, penibelste Bestimmung von Formen, sorgfältigste Auswahl von Farben – schließlich wird eine parallele Wirklichkeit geschaffen. Eine Fälschung setzt somit einen Fälscher voraus, und das müsste im Reich der Natur ein Wesen von hohem, höchstem, allerhöchstem Rang sein. An welchem Punkt, vor welchem Wort stehn wir da, Robert?
    Bei Gott, ich wag es kaum zu sagen!
    Aber ich, ich will es dir verraten, unter uns auf hoher See: Es liegt die Schlussfolgerung nah, dass Gott die allgemeine Entwicklung von Spezies in Gang gesetzt hat,

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