Das Gesetz des Irrsinns
auch die charakteristischen Kreise von Steinbrocken, mit denen die Fellbahnen von Sommerzelten rund um den Mittelpfahl auf dem Boden festgehalten waren. Reste von Winterbauten wurden ebenso auf der Pendulum-Insel nachgewiesen (benannt nach magnetischen Pendel-Experimenten von Sabine) sowie auf der vorwiegend flachen Insel Shannon und auf den Landzungen des Hochstetter und des Wollaston Forland.
Nach der Expedition von Clavering und Sabine blieb das Gebiet sich selbst überlassen. Erst im Herbst 1927 wurde (bei einer der Patrouillenfahrten der Sirius-Hundestaffel) auf Kuhn eine Siedlung aufgespürt: 38 Inuit, unter ihnen ein Schamane, ein Angaqkoq. Die Bevölkerungsgruppe lebte (damals noch) in Sommerhütten und Winterbauten traditioneller Bauweise. Die kleine Siedlung war wirtschaftlich autark: auf der geologisch polymorphen Insel wurden Edelsteine abgebaut und bearbeitet (Rohschliff).
Vom Sommer 1929 bis zum Frühjahr 1930 hatten sich vier Forscher in der Nähe dieser Siedlung einquartiert. Ihr Aufenthalt begann mit der Errichtung einer temporären Wetterstation.
Dies geschah rechtzeitig vor Einbruch des Polarwinters, der Polarnacht. Damit wurde die Arbeit der Meteorologen erheblich erschwert, die des Ethnolinguisten hingegen erleichtert: deutlich gesteigertes Mitteilungsbedürfnis der Inuit in der langen Phase der Polarwinter-Isolation. Sie blieben an ihre (damals noch eingetieften) Winterbauten gebunden, an ihre Arbeitsstätten; Jagen und Fischen war in diesem Zeitraum nicht möglich, die Inuit waren also leicht (und ständig) zu erreichen von der nahgelegenen Forschungs- und Wetterstation. Weil in drei der Winterbauten jeweils eine Kernfamilie lebte und in den anderen Bauten Verwandtschaft (itagiit), war die »residenzielle Einheit« gewahrt und damit das Terrain der Feldforschung klar umgrenzt.
Ich muss allerdings betonen: Olsen war nicht freigestellt für ethnolinguistische Feldforschung, er blieb einbezogen in den Aufbau der Wetterstation sowie in die Durchführung der regelmäßig erfolgenden Messungen. Erst nach Absolvieren dieser Tätigkeiten konnte er aufbrechen zu der etwa zwei Kilometer Luftlinie entfernten Siedlung (in der während der nominellen Tagesstunden gearbeitet wurde: Geräte für den Rohschliff von Edelsteinen nahmen nicht viel Raum ein).
In Olsens tagebuchähnlichen Aufzeichnungen wird ausführlich berichtet vom Aufbau und Ausbau der meteorologischen Station. Ich gebe verkürzend und verdichtend wieder.
Juni 1929 : Wiederholt muss eine Fahrrinne durch das Packeis zur Insel freigesprengt werden, ehe das Transportschiff anlegen kann. Von der Landestelle wird tonnenweise Material hinaufgeschafft auf das Fels- und Eisplateau etwa hundert Meter über dem Wasserspiegel. Besonders sperrig und schwer: die Fertigteile für das Stationshaus.
Olsen: »Wir wurden zu Transportarbeitern und schufteten vom Abendrot bis zum Morgenrot. Wir arbeiteten nämlich des Nachts. Am Tage ist es zu heiß für Mensch und Tier in der gleißenden Sonne auf dem Eis. Dass wir in Grönland so schwitzen würden, hatte uns in Europa nicht geschwant. Das Ganze ähnelte sehr dem Betrieb einer Baustelle, von wissenschaftlichen Arbeiten war noch längst nicht die Rede. Nur Transport, Transport und noch mal Transport! Packpferde, Träger, Pferdeschlitten, alles war dauernd in Bewegung.«
Die Überwinterungshütte aufgestellt, die Vorräte gespeichert. Das Schiff legt ab. Temperaturen sinken, Phasen von Tageshelligkeit verkürzen sich. Und es beginnt die eigentliche Arbeit. Wetterdaten sammeln, Wetterdaten aufzeichnen: Temperaturen, Niederschläge, Windrichtungen, Windstärken. »Zu den routinemäßigen meteorologischen Beobachtungen kommt die Untersuchung von Luftspiegelungen, Dämmerungsbögen und Zodiakallicht.« Schließlich die Polarnacht. In regelmäßigen Abständen Messungen des Luftraums: an ruhigen Tagen mit der Sonde eines Fesselballons, an stürmischen Tagen mit einem Drachen. Aufstiegshöhe: zweieinhalb bis drei Kilometer. Was heißt: jeweils zweieinhalb Kilometer Leine freigeben, jeweils zweieinhalb Kilometer Leine einziehen, mit der Winde: kurbeln, kurbeln, kurbeln …
Zuvor die sehr umständlichen Vorbereitungen eines Ballonflugs: Gasflaschen, vereisende Ventile, wachsender Winddruck auf die sich ausdehnende Ballonhülle. Messgeräte ankoppeln, Aufziehen des Uhrwerks. Und nach dem Herabkurbeln: Abmontieren der Registriertrommeln, Auswerten im Winterbau. Messwerte, Messwerte, Messwerte: Temperaturen,
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