Das Gesetz des Irrsinns
Windrichtungen, Windstärken, Luftfeuchtigkeit. Auch bei Sturm (neue Werte!): Den Winterbau verlassen, den Drachen aufsteigen lassen, zwei Kilometer, zweieinhalb Kilometer, drei Kilometer Leine freigeben, drei Kilometer, zwei Kilometer, einen Kilometer herabkurbeln. Die Registriertrommeln abmontieren. Enttäuschungen bei den Auswertungen: Treibschnee hat Aufzeichnungen auf dem Papierstreifen teilweise gelöscht oder unleserlich gemacht. Und wieder: Ballonsonden, Drachensonden. Messwerte, Messdaten, Messwerte. Ablesen, notieren, auswerten.
Zeitweiliges Nachlassen der Motivation: zur Erschöpfung die Enttäuschungen. Die Meteorologen versuchen, sich zu motivieren: Es ist notwendig, absolut notwendig, dass Tabellen über Temperaturschichten, dass Windstärken aufgezeichnet werden, gleichfalls tabellarisch, die Hochseefischerei in nördlichen Bereichen wird solche Angaben künftig brauchen, die Lufthansa will auch Island in ihr Flugnetz einbeziehen, künftige Erforschung der Polargebiete aus der Luft soll vorbereitet werden. Olsen in seinen Notizen, durch Wiederholungen gegen nachlassende Motivation ankämpfend: »Das Messen ist notwendig, das Erfassen von Wetterdaten ist notwendig, ist absolut notwendig, viele Zeitgenossen warten auf die Zahlen.«
[Anmerkung des Herausgebers: Möglicherweise handelt es sich bei den obigen wie bei folgenden Zitaten aus dem Tagebuch des Ethnolinguisten um Textanleihen – solch ein Verfahren dürfte für Olsens expansives Schreibspektrum nicht untypisch sein. Es ist hier allerdings nicht der Raum, diesem Phänomen nachzugehen, die geforderte und geleistete Knappheit des Beitrags darf nicht relativiert werden.]
Nach den routinemäßigen Arbeiten mit den Kollegen der Wetterstation führte Niels Peter Olsen jeweils sein Projekt der Feldforschung weiter – dies wortwörtlich im Alleingang.
Olsen hatte als Titel notiert für seinen Forschungsbericht:
Wortsymmetrien des Inuit-Inupiaq
. Er dokumentierte und analysierte vor allem Erzählungen des Schamanen Outakalawaping. Dessen Erzählrituale hat Olsen elektroakustisch aufgezeichnet, später transkribiert; für seinen Bericht fertigte er eine Interlinearübersetzung an, der ich in diesem Beitrag folge.
Beim Versuch einer ersten Vermittlung gehe ich anders vor als Olsen. Er legte Erzähltexte in ihrer syntaktischen Komplexität vor und analysierte sie methodisch fortschreitend. Ich hingegen baue, in vier Phasen, das komplexe Modell auf. Ich bin hier zur Vereinfachung gezwungen, allein schon durch den strikt vorgegebenen Umfang meines Beitrags. So kann ich nur hoffen, dass in der verknappten Wiedergabe des folgenden Textbeispiels nicht zu viel verlorengeht vom Sprachmodell der Kuhn-Insel.
Outakalawaping erzählte (unter anderem) seine Version der Geschichte vom Raben, der in grönländischer Mythologie zentrale Bedeutung hat. Ich gebe die Geschichte wieder in erster Variante, abgeleitet vom »mehrschichtigen« Text.
»Der große Rabe, der die Welt erschaffen hat, sah-sieht, dass die Menschen alles zerstören werden, wenn man sie nicht daran hindert. So nahm-nimmt er die Sonne, die die Welt und ihre Zerstörung durch Menschen beleuchtete-beleuchtet, und steckte-steckt sie in einen Fellsack, trug-trägt den weit weg, und es wurde-wird finster auf der Erde, mehr als sechzig Nächte lang. Es wurde-wird sehr kalt, in der langen Polarnacht hockten-hocken die Menschen untätig beisammen in ihren Winterbauten und bekamen-bekommen Angst, das Sonnenlicht würde ihnen für immer genommen. Sie aber wollten-wollen die Sonne wieder sehen, und so boten-bieten sie dem großen schwarzen Raben Opfer an, gelobten-geloben, die Welt, die er erschaffen hat, nicht zu zerstören. Da packte-packt der Rabe mit dem Schnabel den Fellsack, nahm-nimmt die Sonne heraus, ließ-lässt sie wieder leuchten.«
Leicht ablesbar, also nicht weiter kommentarbedürftig: In der Sprache der Grönländer des Nordostens (Inuit-Inupiaq) ist strikte Abgrenzung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem kaum möglich, das Gegenwärtige weithin als Wiederholung von Vergangenem, das gegenwärtig bleibt. Infolgedessen gibt es keine unterscheidenden Sprachformen für Präsens und Präteritum.
Dies zeigt schon das zweite Verb des Erzählmodells: er sah-sieht. In der Transkription heißt es: takuvâ.
Weitere Belege für dieses Verfahren? Es heißt: gefischt … ausgeweidet … verzehrt. Letztlich erscheint es gleichgültig, wer jeweils sah, fischte, ausweidete und verzehrte, derartige
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