Das Gesetz des Irrsinns
Seemann trat tatsächlich an den Zelteingang, wollte zu uns Dünnscheißern aber nicht reinkommen. »Stinkt ja wie die Hölle!«
Es war ein Seemann von einem der anderen Schiffe, die auf Reede lagen; er hatte sich an Bord mit Gurken versorgt, Gurken im Fass. Ich bat ihn, mir die Gurken zu verkaufen, ich würde sonst eingehn vor Durst. Davon riet er ab: Gurken bei Ruhr, da ist man schnell über den Jordan. Ich antwortete mit hölzerner Zunge, das könne ihm doch egal sein. (Um wahrhaftig zu bleiben, muss ich hier korrigieren: Der Situation entsprechend sagte ich, das könne ihm doch scheißegal sein.) Zudem: auf seinem Schiff könne er sich ganz gewiss weitere Gurken besorgen, frisch vom Fass. Und ich kroch auf allen vieren zum Zelt hinaus, legte eine Silbermünze in den heißen Sand, er legte mir die sauren Gurken in die Mütze; ich schleifte sie aus der brüllheißen Sonne in das stickig heiße Zelt. Die anderen Ruhrkranken, vielleicht neidisch, redeten mir zu: Der hat ganz recht, bei Ruhr noch saure Gurken fressen, da gehst du hops. Aber das waren schon zu viele Wörter, für mich gab es nur noch zwei Wörter: Saure Gurken,
saure Gurken
! Einer der Mitleidenden, nachskatend, nachhakend: Lass die Finger davon; wenn du die frisst, hast du für immer ausgeschissen. Das war kein Satz, der die Wörter »saure Gurken« enthielt, also hörte ich nicht darauf, setzte mich vielmehr hin, fraß knirschend, schmatzend die saftigen, essigsauren Gurken, Stück um Stück. Durst gelöscht, Bauch gefüllt.
Nun war der Kopf wieder frei für Fragen: Machen die Gurken dich jetzt kaputt? Angstschweiß, vermischt mit Afrikaschweiß. Mein Bauch kühl, gurkenkühl, grabeskühl ausgehöhlt. (Von der Bühne abtreten …? Leben vollenden …? Geist aufgeben …? Entschlafen …?) Einer der Kranken schlug für mich ein Kreuz, mit vorletzter Kraft. (Von hinnen scheiden …? In die Grube fahren …? Abgerufen werden …? Erlöst werden …? In die ewigen Jagdgründe eingehen …?) Ein anderer fragte mit toten Lippen nach der Zahl der verputzten Gurken. Als ich die nannte, schrieb er mich vollends ab. (Abkratzen …? Abnibbeln …? Verrecken …? Krepieren …?)
Ich streckte mich aus, schon war ich weg. Schlief neun Stunden, wachte auf: lebte also noch! Kein Glas-Aal mehr – verschwunden im Lichtflirren draußen. Da wusste ich: du bist auf dem Wege der Besserung.
Das wollten die andren nicht glauben. Doch, ich lebte noch, es ging mir sogar besser. Das wollte man erst recht nicht glauben. Ja, eigentlich ging es mir viel besser, ich fühlte mich fast schon gesund. Das, so meinte einer, sei das bekannte Aufflackern kurz vor dem Abkratzen. Aber ich kratzte, nibbelte nicht ab, verreckte nicht, krepierte nicht, wurde gesund, durfte als Erster aus dem Quarantänezelt wieder an Bord.
Diese Gurken-Episode, werte Herren, halte ich hier zum ersten Mal schriftlich fest. Ausführungen gleichen Inhalts werden Sie in keiner der gedruckt vorliegenden Publikationen finden, nicht einmal in meinem Roman.
Bereits mit vierzehn wurde ich Stellvertretender Kapellmeister in Paderborn – vorwiegend für Operetten, für Begleitmusiken von Possen. Anschließend ein Engagement in Lübeck. Und dort die große Tragödie meines Lebens: Ohne Vor- oder Warnzeichen wurde ich, im Alter von siebzehn, Opfer einer schweren Erkältungskrankheit, die mir auf die Ohren schlug. Ich wurde taub. Doch ich gab nicht auf, das schon gar nicht!
Nun erst recht auf der Suche nach Einnahmequellen, verdingte ich mich, Mitte zwanzig, als Zeichner in der Anatomie des St.-Jakob-Hospitals zu Leipzig. Als Gehilfe des Prosektors zeichnete ich Anomalitäten, krankhafte Missbildungen von Patienten vor, während und nach Operationen. Auch dies führe ich an, um zu signalisieren, dass ich lebenslang knapp bei Kasse war, infolgedessen vor keiner Tätigkeit zurückscheute. Will sagen, dass ich nicht durch Versäumnisse in die bedrängte Lage geraten war, vielmehr, dass äußere Faktoren auf mein Leben negativ eingewirkt haben.
Nachdem ich hinreichend Verfall und Verformung menschlichen Fleisches in präzisen Zeichnungen festgehalten hatte, ging ich über zum Schreiben. Ich verfasste vor allem Novellen über große Musiker, angefangen bei J. S. Bach.
Die Arbeiten schickte ich der Reihe nach an Robert Schumann, der sie gleichsam unbesehen in seiner
Zeitschrift für neue Musik
veröffentlichte. Doch blieb dann meist das Honorar aus; in diesem Punkt war der gute Schumann mehr als saumselig.
Und ich
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