Das Gesetz des Irrsinns
Roermond und Venloe verwundet worden, sie wolle ihm helfen, im Feldlazarett …
So etwa hätte er sich, situationsbedingt, äußern können. Probleme hätten sich damit wohl kaum für ihn ergeben. Er hätte bloß zu melden brauchen, der Fall hätte sich unterwegs erledigt: Auf der Flucht erschossen. Keiner hätte darüber weiter nachgedacht oder wäre der Sache womöglich nachgegangen, man war nur noch aufs eigene Überleben bedacht.
Schon mit Rücksicht auf das fortgeschrittene Alter der Epstein sah ich mich gezwungen, eine Pause einzulegen vor dem letzten Wegdrittel zum Bahnhof Krefeld. Als geeigneter Haltepunkt bot sich an: ein verlassenes Beutefahrzeug am Straßenrand, ein sogenannter Pan-Pan. Genauer: ein Panhard 170 , Automitrailleuse, gepanzertes Fahrzeug auf Rädern, die Kanone mit dem Kaliber 25 mm in Fahrtrichtung Westen. Dieses Beutefahrzeug (auf dem Rückweg von einer Reparatur?) sollte sich offenbar in die Abwehrschlacht einschalten, musste von der Besatzung jedoch verlassen werden. Wie auch immer, es schien mir geeignet als Schutz bei einer eventuellen Attacke aus der Luft. In diesem Sinne erteilte ich der Epstein die Anweisung: Bei Feindanflug umgehend unter das Fahrzeug kriechen!
Sodann bot ich der Epstein an, sich hinter dem Fahrzeug zu erleichtern. Ich hielt mich solange auf der anderen Seite des Radpanzers auf. Und vernahm Artilleriegrummeln. Ich fragte die Epstein, ob sie das ebenfalls wahrnehme. Sie bejahte dies. Da der Wind in etwa aus Südwesten kam, konnte das signalisieren: Artillerie-Einsatz bei Aachen. Kam der Wind eher aus Westen, wäre es bei Roermond gewesen, und das lag ein beträchtliches Stück näher. Jedenfalls schwere Artillerie. Und dies am Sonntag und zu ungewöhnlich früher Stunde. In Anbetracht der nur noch minimalen Munitionsbestände der Wehrmacht konnte es sich allein um amerikanische Artillerie handeln. Sollte der Ring um Aachen geschlossen werden? Wurde ein Vorstoß Richtung Roermond vorbereitet?
Es wäre fatal gewesen, in dieser Situation Unruhe, womöglich den Eindruck von Verstörung aufkommen zu lassen. So gab ich die Parole aus: Jetzt wird erst mal eine Partie Mikado gespielt! Ich darf in dem Zusammenhang erwähnen, dass von meiner Neigung zum Mikadospiel ein Spitzname abgeleitet wurde: Mikado-Hübner. Schon diese Bezeichnung dürfte deutlich machen, dass mich eher Gelassenheit als Gewalttätigkeit auszeichnet.
Was sich auch im Dienst dokumentierte: Ich setzte das Spiel als Mittel ein. Nahm ein Verhör nicht den gewünschten Verlauf, zog ich das Etui aus der Jackentasche, ließ die Stäbe auf dem Schreibtisch durcheinanderpurzeln, hob gelassen ein Stäbchen nach dem anderen ab. Die Ruhe, die ich damit ausstrahlte, zeitigte meist die erwünschte Wirkung.
Was denn auch bei Epstein der Fall war. Selbst bei dieser Dienstfahrt führte ich einen Packen Stäbchen mit, zog sie hervor aus der Innentasche der Windjacke.
Epstein durfte anfangen.
Die Begutachter dieses Tatbestandsberichtes werden sich fragen, warum ich dieses Spiel erwähne, ja warum ich in jener prekären Situation überhaupt mit dem Spiel begann. Das Artilleriedröhnen am westlichen Horizont markierte nicht nur die Dramatik der Geschehens, es weckte auch so etwas wie eine – freilich verwegene – Hoffnung: Vorbereitet vom Trommelfeuer stößt vom Westen her eine amerikanische Panzerbrigade unter Generalmajor J. L. Collins Richtung Rhein vor und überrollt uns.
In diesem Fall wäre ich aus der rundum misslichen Lage befreit worden. Und Marga Epstein hätte in das zwischenzeitlich befreite Anrath zurückkehren können. Was mich betrifft, so wäre ich geschützt gewesen durch mein fortgeschrittenes Alter sowie durch die Armbinde mit dem Roten Kreuz. Kurzum: mir wäre bei lang genug fortgesetztem Mikadospiel das Heft des Geschehens aus der Hand genommen worden. Ein, wie ich zugebe, tief verborgener, jedoch in Anbetracht der Gesamtlage angemessener Wunsch.
[…] Wie mir Hübner beim formlosen Übergabe-Rapport selber mitteilte, hielt er vor dem Stadtrand von Krefeld an, um eine »Kontrolle durchzuführen«. Als Vorwand diente die Überprüfung, ob Epstein genügend Geldmittel mitführe, um das Billett für die (eskortierte) Fahrt von Krefeld nach Theresienstadt zu lösen, wofür etwa 40 RM in Rechnung gestellt würden, somit zwei Drittel des Gesamtbetrags, dessen Mitführung gestattet war. Epstein wurde gefragt, ob sie ein paar Geldscheine zusätzlich eingesteckt hätte oder Münzen aus dem
Weitere Kostenlose Bücher