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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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bestehe, sie würde nachts mit einer Taschenlampe Zeichen an im Anflug befindliche Terrorbomber geben, was höchstwahrscheinlich den Abwurf der Luftmine in das Zentrum des Dorfs erkläre.
    Die Anzeige lief nicht auf dem regulären Dienstweg bei mir ein, sondern landete auf dem Schreibtisch des Dienststellenleiters, SS -Hauptsturmführer Junghans. Ich betone den Dienstgrad, weil sich für mich eine Zwangslage ergab. Vor der Machtergreifung Beamter (Kriminalobersekretär) der Schutzpolizei, gehörte ich als einziger Mitarbeiter der Außendienststelle Krefeld nicht der SS an. Neben dem »Chef« waren auch die Kollegen Hoegen und Strasser Angehörige der Schutzstaffel. Mein gleichsam ziviler Status sowie meine Zugehörigkeit zur evangelischen Kirchengemeinde war den Herren der SS ohnehin ein Dorn im Auge, und so wurde letztlich nur auf eine dienstliche Verfehlung gewartet, ja gelauert, die mich – trotz ansonsten vorbildlicher Pflichterfüllung – in die Bredouille hätte bringen können. Meine wie auch immer begründete Weigerung, die Jüdin Epstein aus Anrath abzuholen, hätte erhebliche persönliche Konsequenzen zur Folge haben können, ja hier hätten, im Rahmen der vielfach praktizierten Sippenhaft, meine Frau sowie meine (erwachsenen) Kinder mit einbezogen werden können. […]
    So blieb mir nichts anderes übrig, als mich zur Neersener Straße zu begeben. Wobei ich gleich anmerken muss, dass ich der Jüdin Epstein gegenüber nichts von meiner Verstimmtheit anmerken ließ, sie vielmehr betont korrekt behandelt habe, obwohl es durchaus Stichworte zu An- und Vorwürfen gegeben hätte, etwa anlässlich der Mitführung von Gepäck.
    Ich darf, unbeschadet mündlicher Ausführungen bei der Hauptverhandlung, den Ablauf vorab schon mal skizzieren.
    Ich betrat die Wohnung der Marga Epstein. Als Erstes bat ich sie in höflicher Form, sich auszuweisen. Nach Feststellung der Personalien erhob sich die Frage, in welcher Form und bis zu welchem Gewicht der zusätzliche Transport von Gepäck genehmigt werden könnte. Sie hatte sich an die Vorgaben gehalten: ein Gesamtgewicht von weniger als fünfzig Kilo. Auf einem Bauernhof der Ortschaft hatte Reimann das Wiegen des Koffers übernommen – gemäß damaliger Rechtslage war die Epstein weder berechtigt noch befugt, die Gemeindeviehwaage oder eine Waage der Nachbarschaft zu benutzen. Bei ihrem Gepäckstück handelte es sich ursprünglich um einen Vulkanfiberkoffer, der allein schon wegen seines sperrigen Formats für den Transport auf dem bekanntermaßen kleinen Gepäckträger eines Fahrrads völlig ungeeignet war. Ich sah mich gezwungen, darauf zu bestehen, dass die Epstein umpackte, und zwar in einen Rucksack, dies, situationsbedingt, allerdings nur mit der Hälfte des Kofferinhalts. […]
    Unter Mithilfe Reimanns verzurrte ich den Rucksack auf dem Gepäckträger des Fahrrads – die Jüdin sah sich wegen ihrer zittrigen Hände dazu nicht in der Lage. Meine Anweisung befolgend, schwang sie sich mit einiger Umständlichkeit vor mir auf die Stange. Die etwas füllig erscheinende Person (Wasser in den Beinen) mit den Armen umfassend, um das überladene Fahrrad sicher lenken zu können, setzte ich an zur Fahrt. Wie sich bald erweisen sollte: ein überaus mühseliges Unterfangen.

    Mit Blick auf die rechtliche Würdigung des Verhaltens von Hübner sehe ich mich genötigt, einen scheinbar beiläufigen Umstand zu erwähnen: Die – wenn auch äußerlich erzwungene – körperliche Nähe zwischen dem Judenreferenten und der ihm ausgelieferten Frau während der Deportation auf dem Fahrrad.
    Zwecks Erhellung der Gesamtsituation sollte ich das kurz vor Augen führen. Die weibliche Person saß, in Bewegungsrichtung meist nach links eingeschwenkt, die Beine parallel gehalten, auf dem sogenannten Oberrohr des Herrenrades, hielt sich an der Lenkstange fest. Der Fahrer des doppelt belasteten Drahtesels war gezwungen, mit der rechten Hand unter ihrem rechten Arm durchzugreifen, um die Lenkstange zu packen. Mit der Brust berührte er gewöhnlich die ihm zugedrehte linke Schulter der weiblichen Person. Mit dem rechten Knie stieß er bei jeder Drehbewegung des Pedals unausweichlich an das Gesäß, während er mit dem linken Knie von oben herab zwangsläufig am linken Oberschenkel der weiblichen Person herabstreifte. Über die linke Schulter hinweg und am Kopf vorbei hatte er freie Sicht.
    Nur indem man sich diese Situation vor Augen führt, kann die absurde Konstellation voll zum Ausdruck

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