Das Gesetz des Irrsinns
musste sie verneinen, konnte mir jedoch die Formationsnummer nennen, die sie am Kragenspiegel abgelesen hatte. Besagter SA -Mann bedrohte sie sodann mit der Pistole. Sie musste sich mit dem Gesicht zur Wand drehen für den »fälligen Genickschuss«. Ein paar Sekunden später brüllte er: »Du alte jüdische Drecksau, du bist das Pulver nicht wert!« Und er schlug sie mit dem Pistolengriff auf den Hinterkopf, Platzwunden hinterlassend. Dies alles, zuverlässig bestätigt, eine Woche
nach
der Kristallnacht.
Laut Fortsetzung des während der Radfahrt erfolgten Berichts ist sie mit Rudolf, ihrem Mann, gleich am Morgen danach zum (mittlerweile längst eingezogenen) Wachtmeister im Dorf gegangen; sie baten ihn, mitzukommen, die Schäden aufzunehmen. Daraufhin erklärte er lediglich, er sei unabkömmlich. Als sie ergänzten, die SA -Männer hätten die Haushaltskasse geplündert – Reichsmark, nicht Gulden –, da schien er fast erleichtert: klar benennbarer Tatbestand. Und er verwies das Ehepaar an die Kripo in Krefeld. In der sicheren Erwartung eines dortigen Misserfolgs haben sie sich die Fahrt allerdings »erspart«.
Dafür, so konnte ich nur betonen, sei man jetzt bei mir an der richtigen Adresse. Ich fügte ergänzend hinzu, dass ich zwar für das (mittlerweile aufgelöste) »Referat Juden, Emigranten, Kirchen« arbeitete, dass ich von Hause aus jedoch Kriminalobersekretär sei. Und konnte damit sachkundig erklären: Durch einen Erlass von Reichsinnenminister Göring wurden nach dem 11 . November 1938 Übergriffe solcher Art verboten; was danach geschah, seien rein private Aktionen gewesen – was offenbar auch jenen Tatbestand in Anrath, Neersener Straße, betreffe. Die illegale Aktion hänge wahrscheinlich mit Überfällen auf jüdische Wohnungen in Krefeld zusammen, ebenfalls erfolgt am 17 . November, gleichfalls in den frühen Morgenstunden. Ich sicherte der Epstein zu, gleich am nächsten Montagmorgen den Anrather Übergriff zu Protokoll zu nehmen. Der Vorfall liege zwar mittlerweile sechs Jahre zurück, müsse auf jeden Fall aber zu den Akten genommen werden. Unabhängig von Einzelheiten, die ich gegenwärtig nicht überprüfen könne, handle es sich bei besagtem Vorfall eindeutig um gesetzwidriges Verhalten.
Weil es ihr offenbar schwerfiel, mir in dieser Sache Glauben zu schenken, sprach ich in betonender Form von Eigenmächtigkeiten, von ungesetzlichem Vorgehen, von nicht zu billigenden Ausschreitungen, die geeignet seien, das Ansehen der Partei oder der SA zu schädigen.
Durch die Bestimmtheit meiner Äußerungen konnte ich zu einer gewissen Beruhigung beitragen. Es war denn auch kein leeres Versprechen; mein Schriftsatz muss sich, falls die Aktenbestände der Dienststelle nicht der voreiligen Vernichtung anheimgefallen sind, bereits bei oberflächlicher Suche aufspüren lassen.
Ich bitte, dies bei der rechtlichen Würdigung zu berücksichtigen. Auch wenn es nominell Aufgabe eines Anwalts ist, schriftlich Entlastendes vorzulegen, so möchte ich mir die Darstellung dieses Tatbestands nicht erst für die Hauptverhandlung vorbehalten.
Bevor ich in einem späteren Abschnitt meines Schriftsatzes auf Hübners amtliche Tätigkeit eingehe, will ich versuchen, die Form seines Versagens konkret zu schildern, wobei mir auf Grund meiner Tätigkeit als Schutzpolizist die genaue Kenntnis meines Amtsbezirkes zustatten kommt.
Etwa auf halber Strecke zwischen Anrath und Krefeld führt die Landstraße durch ein Waldgebiet mit der nüchternen Bezeichnung »Forstwald«. Marga meldete rechtzeitig an, sie müsse dringend austreten. Hübner machte geltend, dass sie auch am Rand des Forstes beobachtet werden könnte. Und dann das Stichwort, aber mit negativem Vorzeichen: Die Epstein solle sich nur ja nicht einbilden, sie könnte sich der Evakuierung durch Flucht entziehen, er müsse in solch einem Fall von der Schusswaffe Gebrauch machen.
Damit waren die fatalen Spielregeln klar. Dabei hätte Hübner sowohl in jener speziellen Situation wie in jener Phase des allgemeinen Zusammenbruchs eigenmächtig handeln können, dies auch noch gefahrlos.
So hätte er den Rucksack vom Gepäckträger lösen, ihr die Richtung zeigen können: Durch den »Forstwald« westwärts bis zum Ende, von dort aus durch die Kehner Heide, sodann, unter Umgehung von Viersen, weiter zur Grenze. Und sollte sie einer Streife der Feldpolizei in den Weg laufen: Einfach sagen, ihr Sohn oder einer ihrer Söhne sei, laut Meldung eines Kameraden, zwischen
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