Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Sie beschloss sogar, ohne Abendbrot auszukommen. Sie ging in ihr Zimmer, zog sich rasch aus und streckte sich auf ihrer Matte aus. Das Betttuch zog sie über den Kopf. So hatte sie es immer als kleines Mädchen gemacht, wenn etwas Schlimmes passiert war.
Sie hörte es zwei- oder dreimal an ihre Tür klopfen, doch sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Ihr stand nicht der Sinn danach, mit Oda zu reden, und sie hatte auch keine Lust, einen jungen Asix zu sehen, der mit einer fadenscheinigen Entschuldigung vorstellig wurde, in der Hoffnung, das sie ihn einlud, mit ihr die Nacht zu verbringen. Sie wollte in aller Ruhe nachdenken.
Was sie erlebt hatte, widerte sie an. Sie war Zeugin einer abscheulichen Episode geworden, ohne dass sie in Verlegenheit geraten war. Sie hatte nicht einmal protestiert, als die jungen Erwachsenen, gerade einmal zwölf Trockenzeiten alt, unter den Peitschenhieben zusammenbrachen, den Rücken zerfleischt wie nach dem Angriff eines Raubtiers.
Was die beiden getan hatten, war unentschuldbar, und wenn sie nur daran dachte, stieg eine neuerliche Woge des Zorns in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Doch es gelang ihr, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden und in Ruhe weiter zu überlegen. Was die Jungen getan hatten, war inakzeptabel, aber im Grunde war es nichts weiter als ein unerfreulicher Jugendstreich gewesen, der aus dem Ruder gelaufen war. Sicher verdienten die Täter eine Strafe, aber warum hatten alle auf diese Weise reagiert? Der gesamte Sobieski-Clan. Und auch sie, Suvaïdar. Sogar Saïda, der so sonst sanfte, friedliebende Saïda.
Sie konnte nicht schlafen und wälzte sich die ganze Nacht auf ihrer Matte hin und her, die ihr hart und voller Knoten erschien. Sie sehnte sich nach den Matratzen aus der Außenwelt, an die sich bei ihrer Ankunft auf Wahie so schlecht hatte gewöhnen können.
Im Morgengrauen eilte sie zum Hospital, obwohl sie an diesem Tag erst am Nachmittag Dienst hatte. Sie schrieb sich für ein Gespräch mit Maria Jestak ein, die mittlerweile Direktorin des Lebenshauses von Gaia war.
»Du musst mir nichts erzählen«, sagte die Ärztin zu ihr, als sie zusammentrafen. »Du warst gestern im Fechtsaal der Sobieskis. Ich habe dich gesehen, denn ich war auch dort. Du kommst noch nicht klar damit.«
»So ist es, Jestak Adaï«, entgegnete Suvaïdar respektvoll. »Ich bin betrübt, bestürzt ... vor allem über meine Reaktionen. Ich frage mich, wie man als Medizinerin dabei sein kann, wenn jemand so schrecklich bestraft wird, ohne einzuschreiten, ja, sogar in stummer Zustimmung. Wenn du mir meine Entlassung empfiehlst, würde ich das voll und ganz verstehen. Ich habe mich meines Berufs nicht würdig gezeigt.«
»Unsinn!«, antwortete Maria Jestak barsch. »Bist du die Einzigegewesen, die nichts gesagt hat? Was haben denn alle Erwachsenen des Sobieski-Clans getan? Sind sie eingeschritten, um die Schläge zu stoppen?«
»Nein, meine Dame. Ich nehme an, dass es sich um eine Art kollektive Hysterie gehandelt hat, anders kann ich es mir nicht erklären. Aber auf jeden Fall ist mein Verhalten in meiner Eigenschaft als Medizinerin weniger entschuldbar.«
»Auch ich bin Medizinerin. Glaubst du, dass ich jetzt um meine Entlassung bitten werde? Ich habe zugesehen wie alle anderen auch, und ich habe nicht protestiert.«
»Du weißt Dinge, die ich nicht weiß, Jestak Adaï?«
»Sehr viele Dinge«, erwiderte Maria erbittert. »Aber in Sachen Genetik bin ich keine Spezialistin, wie du weißt. Dich hat das nie interessiert, oder?«
»Nicht besonders, zumal ich den Eindruck hatte, dass dieses Gebiet ausschließlich den Jestaks vorbehalten ist.«
»Dieser Eindruck trifft zu. Wir versuchen in der Tat, Recherchetätigkeiten den Mitgliedern des Clans anzuvertrauen, obwohl einer meiner persönlichen Assistenten eine Sobieski ist. Aber gestern hast du festgestellt, dass es eine Anomalie gibt. Und es ist besser, du weißt genau, wie das kommt, anstatt dich in Spekulationen zu ergehen, die zu nichts führen. Folge mir.«
Sie gingen die zwei Etagen herunter und kamen in das Zentrum, das Suvaïdar einmal besucht hatte – lange Zeit, bevor sie volljährig geworden war. Dort hatte sie sich einer Reihe von Untersuchungen und Analysen unterziehen müssen.
Maria ging durch einen schmalen, taghell erleuchteten Flur im Felsgestein. Und dann lag das wohl modernste und am besten ausgestattete Labor vor ihnen, das Suvaïdar je gesehen hatte, zumindest auf ihrem Geburtsplaneten.
Maria
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