Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
wie die anderen, die ohne jede Gefühlsregung auf die Rücken der beiden Jugendlichen starrten, die mit Wunden übersät waren.
»Ihr seid zur Arbeit in den Minen von Nova Estia verurteilt, wo ihr leben oder sterben könnt, ohne dass der Sobieski-Clan sich weiter um euch scheren wird.«
Der Clanchef wandte sich ab, um zu gehen, als der Junge, der bei Suvaïdars Ankunft geflohen war, ihm die Frage stellte:
»Sazdo Adaï, ehrwürdiger Vater, für wie lange sind wir verurteilt?«
»Lebenslänglich! Wärt ihr Shiro, hätte ich euch empfohlen, das Shiro-Privileg zu wählen, aber ihr seid keine Shiro mehr.«
»Lebenslänglich?«, wiederholte der Junge bestürzt, während der andere als Zeichen der Rebellion den Kopf hob. »Wenn ich kein Sobieski mehr bin, muss ich euch auch nicht gehorchen, und wenn ich kein Shiro mehr bin ...«
»Zehn Peitschenhiebe«, befahl der Alte mit ruhiger Stimme. »Für alle beide.«
»Dazu hast du nicht das Recht!«
»Zwanzig.«
Der Junge wollte erneut protestieren, doch sein Begleiter hob schnell die Hand, um ihm den Mund zuzuhalten. Und der Alte, der rasch »dreißig Hiebe!« befohlen hatte, begnügte sich damit, jemandem ein Zeichen zu geben, der hinter ihm stand. Zwei Männer ergriffen die Peitschen aus Binsen, die in den Fechtsälen während des Unterrichts benutzt wurden, und führten die Bestrafung aus. Mit lauter Stimme und ausdruckslosem Gesicht zählten sie die Schläge mit.
Wie alle anderen Shiro hatte auch Suvaïdar, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, häufig eine kleine Dosis Strafe mit der Peitsche erhalten, wie eine Medizin, und sie war schweigend dabei gewesen, wenn ein Schüler aus ihrer Klasse bestraft worden war. Doch nie zuvor hatte sie gesehen, dass eine Reitpeitsche mit einer solchen rachsüchtigen Wut geschwungen wurde. Auf der bereits eingerissenen Haut hinterließ jeder Schlag eine blutige Strieme. Anfangs bemühten sich die Opfer noch, still zu bleiben, doch beim dritten Schlag stieß einer der beiden ein Stöhnen aus, und seit dem sechsten Peitschenhieb schrien beide jedes Mal laut – ein Geschrei, das nichts Menschliches mehr hatte. Beim zwölften Schlag kippte einer der beiden Jugendlichen mit dem Gesicht auf dem Boden. Er war zweifellos in Ohnmacht gefallen. Doch niemand dachte daran, die Bestrafung abzubrechen. Alle anwesenden Shiro, Suvaïdar inbegriffen, wie sie sich mit Schrecken bewusst wurde, beobachteten das Geschehen mit derselben grausamen Zielstrebigkeit.
Ein junges Asix-Mädchen war es schließlich, die den Arm festhielt, der gerade wieder zuschlagen wollte.
»Shiro Adaï, das reicht, sonst tötest du ihn«, sagte sie. »Der Alte hat zwanzig Peitschenhiebe angeordnet, aber er hat nicht gesagt, dass sie so heftig sein müssen, und er hat auch nicht gesagt, dass alle auf einmal ausgeführt werden sollen.«
Der Alte stimmte zu.
»Führ die beiden ins Lebenshaus«, befahl er. »Die Jestaks sollen entscheiden, ob sie sterilisiert werden, bevor sie nach Nova Estiageschickt werden. Wenn ich die Entscheidung treffen könnte, würde ich sie kastrieren lassen, und zwar ganz schnell.«
Er drehte sich um, ohne noch einmal einen Blick auf die beiden Jungen zu werfen. Der eine war noch immer bewusstlos, der andere kniete noch. Seine Augen waren vor Schmerz vernebelt.
Die meisten Asix waren schnell gegangen, als man mit der Bestrafung der beiden begonnen hatte. Nun kamen einige wieder zurück und halfen den beiden Jungen aufzustehen. Dann gingen sie mit ihnen davon, um sie ins Lebenshaus zu bringen.
Genau wie alle anderen, war auch Suvaïdar sehr wütend gewesen und hatte die Bestrafung befürwortet. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, dass die beiden Jungen heftig protestierten, denn das hätte die Zahl der Schläge noch weiter erhöht. Aber nun war ihre Wut verraucht, und sie fühlte sich innerlich leer. Langsam löste die Scham die Leere in ihr ab.
Was hat mich nur geritten?, fragte sie sich. Bin ich vollkommen verrückt geworden? Und alle anderen mit mir? Wenn es so weitergeht, glaube ich womöglich noch, dass Außenweltler recht haben, wenn sie uns für Wilde halten.
Bestürzt kehrte Suvaïdar nach Hause zurück. Am liebsten hätte sie sich übergeben. Alles, was passiert war, flößte ihr Abscheu ein, und sie schämte sich für sich selbst und für ihr Volk. Sie hatte keine Lust, jemanden zu sehen; deshalb ging sie nicht zu den Bädern, in denen sich die Jugendlichen vergnügten, und auch nicht zu den Erwachsenen im Gemeinschaftsraum.
Weitere Kostenlose Bücher